Ratschläge sind auch Schläge – kleine Turbulenzen in der Kommunikation

Ratschläge sind auch Schläge – das wollen wir uns mal näher anschauen: Bestimmt kennen Sie das: Sie treffen einen guten Freund oder eine Freundin, und Sie werden gefragt, wie es Ihnen geht. Sie erzählen daraufhin die neuesten Ereignisse aus Ihrem Leben und wie es Ihnen damit geht – und sagen wir, Sie haben etwas erlebt, was Sie eher trist finden. Und dann sagt die Freundin so etwas wie: „Ach, mach‘ dir doch nichts draus. Der ist doch ein Idiot. Du solltest dir das nicht so zu Herzen nehmen. Du machst doch eine tolle Arbeit – lass‘ dich nicht ins Bockshorn jagen.“

Sie atmen tief ein und wieder aus. Eigentlich wollten Sie nur die Frage „Wie geht es dir?“ beantworten. Sie wollten die Freundin an Ihrem Leben teilhaben lassen, aber Sie hatten nicht die Absicht, eine kostenlose Diagnose, einen Rat oder eine Handlungsanweisung zu bestellen. Ich empfinde ungebetene Ratschläge als Grenzverletzung – jemand trampelt in meinen Vorgarten. Es ist so, als ob der andere mir nicht zutraut, selbst auf die Lösung zu kommen. Ich weiß regelmäßig nicht, wie ich antworten soll: soll ich danken, obwohl ich keinen Dank, sondern eher Befremden empfinde? Der Vorteil eines solchen Dankes ist, dass die Beziehung oberflächlich harmonisch bleibt. Der Ratgebende ist seinen Rat losgeworden und ist befriedigt, dass er mir helfen konnte. Das mache ich oft in lockeren Beziehungen, z.B. wenn ich die Person nur sehr flüchtig kenne, oder wenn ich keine Hoffnung habe, dass sie es versteht, wenn ich sie darauf hinweise, dass ich keine ungebetenen Ratschläge mag.

Oder soll ich für mich eintreten und sagen: „Danke, aber eigentlich wollte ich gar keinen Rat. Ich habe nur deine Frage beantwortet, um dich an meinem Leben teilhaben zu lassen.“ Das habe ich schon einige Male gesagt – und damit oft eine kleine Turbulenz in der Beziehung geerntet. Denn der andere ist dann z.B. beleidigt, weil er sich doch extra etwas überlegt hat, um mir zu helfen. Er hat sich mit mir beschäftigt, um mein Problem zu lösen, und er will dann auch Dankbarkeit. Wenn er Dankbarkeit will, kann es sogar sein, dass er erwartet, dass ich seinen Rat umsetze.

Oder er weiß tatsächlich nicht, was er denn sonst sagen soll, weil er nichts anderes gelernt hat. Wenn er keinen Rat geben darf, fühlt er sich in seinem freien Selbstausdruck beschränkt und sein Autonomiebedürfnis ist beeinträchtigt. Manchmal höre ich die irritierte, fast entrüstete Antwort: „Ja, dann kann ich ja gar nichts sagen! Soll ich einfach nur zuhören, oder was?“ Ja, warum eigentlich nicht? Was ist so falsch am reinen Zuhören?

Die Bedeutsamkeit der eigenen Meinung für Andere wird im Allgemeinen weit überschätzt.

Wenn jemand etwas aus seinem Leben erzählt, will er die Geschichte häufig einfach nur loswerden. Er will keinen Rat. Auch keine Diagnose. Es reicht, einfach zuzuhören und sich einzufühlen, die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, gegebenenfalls Rückfragen zu stellen.

Einfach nur präsent zu sein, das ist meist das größte Geschenk, das wir einem Menschen machen können.

Damit leisten wir meist einen höheren Beitrag für das Leben unseres Gegenübers als mit den meisten tollen Ratschlägen, die uns einfallen. Denn der andere hat dann Raum, sich auszubreiten. Meist jedoch läuft eine Unterhaltung ab wie ein Fußballspiel: es geht vorrangig um den eigenen Ballbesitz.

Was hat es mit diesem Drang auf sich, ständig seine Meinung zu äußern?

Ich habe beobachtet, dass dieser Drang nur vom Ego kommt, das unbedingt wichtig sein will. Wenn wir jemandem einen Rat geben, dann erfüllen wir uns das Bedürfnis nach Wirksamkeit, nach Gehörtwerden, nach Bedeutsamkeit. Wir brauchen es für uns selbst, unsere Weisheit spazieren zu führen.

Woran erkennen wir, dass es uns um den Anderen geht oder um uns selbst?

Ein guter Indikator ist der kleine nagende Schmerz, den wir empfinden, wenn wir uns vorstellen, dass der andere unseren tollen Rat nicht hören will. Ist da ein solcher Schmerz oder eine kleine Aufgeregtheit, ein Drang, unbedingt meine Weisheit spazieren zu führen? Wie geht es mir bei der Vorstellung, dass mein Geschenk zurückgewiesen wird? Wenn ich damit entspannt umgehen kann, wollte ich wirklich einen Beitrag leisten, aber wenn ich beleidigt oder sauer auf den anderen bin, war mein Ego am Werk.

Was tun, wenn ich einen tollen Rat für den anderen habe, ihm aber nicht in den Vorgarten trampeln will?

Ich kann fragen: „Möchtest du einen Rat oder eine Empfehlung?“ oder „Darf ich dir sagen, was ich darüber denke?“ Dann ist der andere vorbereitet und weiß, dass  er jetzt einen Rat zu hören bekommt. Er kann ablehnen oder Ja sagen. Seit ich mich mit Gewaltfreier Kommunikation beschäftige, habe ich mir angewöhnt, immer nachzufragen. Manche Leute sind dann natürlich irritiert – vermutlich, weil sie selbst nie nachfragen würden. Aber ein „Initiativ-Rat“ fühlt sich auch für mich als Ratgebende genauso an, als ob ich einer anderen Person unaufgefordert das Gesicht säubern würde (möglichst noch mit einem angespuckten Taschentuch!). Es ist eine Grenzverletzung. Wenn ich aber sage: „Mir fällt gerade ein Gedanke/Rat/Tipp dazu ein. Möchtest du ihn hören?“, dann hat die andere Person die Entscheidungsgewalt über ihre Sphäre.

Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit.

Von außen sieht man die Lektionen bzw. Fehler anderer Menschen oft sehr klar. Man würde ihnen am liebsten eine detaillierte „Reiseroute zum Glück“ überreichen. Ich werde oft ungeduldig, wenn sich jemand in meinem Umfeld nicht schnell genug entwickelt – oder wenn ich vielleicht sogar überhaupt keinen Fortschritt sehe. Aber mehr als Angebote darf ich trotzdem nicht machen: Ratschläge darf ich also nur wie einen Teller mit Pralinen darbieten. Denn was gibt mir das Recht, zu bestimmen, was diese Person wann lernen soll und in welcher Geschwindigkeit? Jeder darf seine Erfahrungen in der Geschwindigkeit machen, die zu ihm passt. Mein ach so schlaues Ego hat da einfach die Klappe zu halten.