Am Sonntag war ich mit meinen Kindern auf dem Ivy-Konzert und stand ganz vorne, fast direkt an der Bühne. Es war ein tolles Konzert – vor allem, weil Mic Donet die Vorgruppe war, und den fand ich eigentlich noch besser als Ivy selbst.

Erstaunlich an diesem Konzert war für mich, wie viele Menschen neben mir ständig mit ihren Smartphones filmten oder fotografierten. Drei aufgebrezelte Frauen neben mir waren besonders laut, unterhielten sich miteinander, fotografierten sich gegenseitig und auch die Band und simsten unentwegt. Ich fragte mich, warum sie eigentlich das Konzert besuchten, denn es schien völlig nebensächlich zu sein. Ein Film darüber hätte auch gereicht.

Natürlich filmte und fotografierte ich selbst auch – aber insgesamt nur ca. 7 Minuten. Da ich ziemlich empfindlich bin (manche sagen „überempfindlich“ dazu), merkte ich, dass es etwas ganz anderes ist, eine Szene zu filmen oder zu fotografieren, als sie zu erleben. Wenn ich etwas filmte oder fotografierte, war ich nie ganz im Geschehen, ich konservierte die Szene für später, aber ich war nicht wirklich dabei, während sie stattfand. Ich konnte nicht richtig zuhören, ich sah nicht richtig, ich bekam nicht wirklich mit, was passiert. Ich war ständig abgelenkt. Daher ließ ich mein iPhone fast immer in meiner Tasche.

Immer mehr Menschen befinden sich mit ihrer Aufmerksamkeit ständig in einem blöden kleinen Kästchen: unsere Kinder (nein, meine nicht!) sind in einem Nintendo DS (oder wie auch immer der neueste Kasten eben heißt), und größere Kinder und Erwachsene haben ein Smartphone. Wir sind nie wirklich da. Gestern habe ich mehrere Kinder schweigend (!) nebeneinander (!) auf der Straße sitzen gesehen, die jeweils in ihr eigenes Kästchen gekuckt haben. Mich erinnert das an die Filme Wall-E  und Matrix – und mir wird gruselig. Wir werden zu Tode unterhalten und verpassen darüber das wahre Leben.

Schon für einen Menschen ohne electronic device ist es schwer genug, im Jetzt zu sein. Denn schon durch unsere Gedanken sind wir entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft: wir denken an Situationen, die wir erlebt haben und stellen uns vor, was wir hätten sagen können. Wir stellen uns Situationen vor, in die wir kommen könnten und was wir tun würden. Wir sind also nie hier und jetzt, sondern werden von unserem Verstand ständig verführt, innere Filme anzuschauen.
Aber wenn ich das, was ich gerade (nicht) erlebe, auch noch mit einem Smartphone kommentiere oder konserviere, ist das eine zusätzliche Möglichkeit, aus der Gegenwart zu verschwinden. Wenn ich die Situation twittere oder in Facebook einstelle, bin ich mit meinen Gedanken bei meinen Facebook-”Freunden” oder Twitter-Followern. Das wirkliche Leben geht an mir vorbei.

An manchen Tagen beobachte ich an mir, dass ich meine Gedanken oder Erlebnisse abscanne, ob sie sich für einen Tweet eignen. Ich bin sowas wie ein Paparazzi in meinem eigenen Leben! Glücklicherweise merke ich es relativ schnell und kann es wieder abstellen. Bei anderen Menschen habe ich nicht den Eindruck, dass sie es wieder abstellen können. Sie twittern Heiratsanträge, ihren Aufenthaltsort, ihre Überstunden, was auch immer. Ganz abgesehen davon, dass mich vieles davon nicht interessiert, wundere ich mich bei vielen Tweets, dass die Leute in der Situation überhaupt die Möglichkeit hatten, das mitzuteilen. Ich stelle mir dann vor, wie sie bei der Oma auf der Couch sitzen und in ihr iPhone tippen. Wie sie auf dem Spaziergang alle drei Meter stehen bleiben und ihr Samsung rausholen.

Als mein Großvater vor ein paar Tagen beerdigt wurde, hätte ich das nie twittern wollen, weil ich in dem Geschehen sein wollte (ein Gast dieser Beerdigung jedoch filmte tatsächlich die ganze Beerdigung).  Ich kenne die Leute in Twitter nicht, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich dafür interessieren, ob ich den Spargel mit Schinken oder mit Sauce Hollandaise bestellt habe. Und wenn ich im Wald bin, dann will ich mit der Natur in Kontakt kommen und idealerweise still werden. Das ist nicht möglich, wenn ich über jede Maus, dir mir begegnet, einen Tweet schreibe.

Für’s Fotografieren gilt das Gleiche. Ich liebe Fotografieren, aber wenn ich es tue, ist immer dieser schwarze Bollen zwischen mir und der Situation. Manchmal sehe ich eine berührende Szene (z.B. von zwei Menschen, die sich umarmen) und dann würde ich sie gerne abbilden. Aber ich weiß, ich würde die Szene zerstören, wenn ich die Kamera raushole. Manche Situationen müssen einfach unkonserviert vergehen. Das Leben ist auch dann bedeutsam, wenn es nicht medial verwertet wird.

Das Leben ist nicht digital. Wenn wir es zu sehr digitalisieren, bagatellisieren wir es zugleich.