Drei Todesfälle seit Anfang Juli

Hey 2020, es ist jetzt mal gut!

Seit Anfang Juli sind in meinem Umfeld drei Menschen gestorben: Der Mann meiner Mutter nach langer Krankheit mit 70, der Mann einer Bekannten ganz plötzlich und ohne Vorwarnung mit 52, und der Mann einer anderen Bekannten nach einem Jahr Krebsdiagnose mit 48 (glaube ich). Diese drei Tode haben in mir Fragen und Prozesse angestoßen, die vielleicht für Sie auch bedenkenswert sein könnten.

Dass mein Stiefvater bald gehen würde, war abzusehen, weil seine Parkinson-Erkrankung schon große Teile seines Systems lahmgelegt hatte. Dennoch starb er relativ plötzlich im Krankenhaus, weil er auf der Toilette unbeaufsichtigt gewesen, dabei aufs Gesicht gestürzt war und wenige Tage später seinen Verletzungen erlag. Aber der Unfall war nur ein Beschleuniger, denn wir hatten alle damit gerechnet, dass er das Jahresende nicht mehr erleben würde.
Wenige Wochen später starb der Mann einer Bekannten (ich nenne sie mal Sven und Sabine) an einem Hirnschlag – einfach so, von heute auf morgen. Die beiden sind sehr herzlich und hilfsbereit und ich mochte/mag sie sehr, auch wenn wir uns nur selten sahen/sehen.
Und heute lese ich in Facebook, dass nun auch der Mann einer anderen Bekannten (diese beiden nenne ich mal Nils und Annette) im Hospiz gestorben ist, nachdem er nur ein Jahr zuvor eine Krebsdiagnose erhalten hatte.

Wie verhält man sich gegenüber Menschen, die gerade ihren Ehepartner verloren haben?

Von Svens Tod hatte ich zufällig erfahren: Meine Tochter war im Kindergarten mit seinem Sohn befreundet, und weil sie heute wieder die Telefonnummern voneinander haben, las meine Tochter auf WhatsApp seine Trauer-Statusmeldung – ausgerechnet an meinem Geburtstag. Einige Tage später googelte ich Svens Namen und fand tatsächlich eine Traueranzeige. Mit Sabine hatte ich zwar ab und zu auf WhatsApp geschrieben, doch unsere Gespräche waren eher organisatorisch, weil wir auf dem Gelände ihrer Gärtnerei unseren Wohnwagen abgestellt haben. Persönliche Gespräche hatten wir nur, wenn ich mal im Blumengeschäft vorbeischaute, und der war am anderen Ende des Ortes, daher kam ich da selten hin. Ich teilte Sabine daher per WhatsApp mein Beileid mit, und obwohl ich überraschend stark in Tränen aufgelöst war, hatte ich Scheu, ihr dieses Entsetzen mitzuteilen. Ich schrieb: „Liebe Sabine, ich möchte dir mein aufrichtiges Beileid ausdrücken. Ich habe von Svens Tod durch A. erfahren, die G.s WhatsApp-Status gesehen hat. Da mein Stiefvater auch am 7.8. verstorben ist, weiß ich, dass man von den ganzen Beileidsbekundungen überfordert ist. Ich wünsche euch von ganzem Herzen viel Kraft und Zusammenhalt und sende sehr mitfühlende Grüße, Michaela <3<3<3“ Sabine antwortete im Übrigen nicht. Ich nehme es ihr nicht übel, denn sie wurde sicher überschüttet von Kondolenzmitteilungen und hat schon genug mit der Bewältigung des Alltags zu tun.

Entsetzte, in Tränen aufgelöste Menschen sind keine Hilfe.

Mir fiel eine Situation bei meiner Mutter ein: Als wir den Nachbarn (ca. Ende 30) im Hausflur trafen und ihm mitteilten, dass mein Stiefvater gestorben war, drückte er meine Mutter („Ach Mensch, komm mal her!), weil er sie trösten wollte. Tatsächlich war sie eigentlich in diesem Moment recht stabil gewesen, und er war derjenige, der geschockt war. Indem er sie mit seinem Entsetzen und gutgemeinten Mitgefühl überschüttete und umarmte, tat er eher etwas für sich als für sie. Und er riss das dünne Häutchen Normalität wieder auf, das gerade entstanden war, und wir waren alle wieder traurig.

Meine Mutter fürchtete sich auch sehr vor der Trauerfeier, die leider erst einen Monat nach dem Ableben stattfand (#berlin #corona). Sie wollte ausdrücklich keine Beileidsbekundungen, denn die Vorstellung, jemand könnte weinend auf sie zukommen und sie unaufgefordert umarmen, war ihr zuwider. Und das ist auch tatsächlich missbräuchlich, denn unter dem Deckmäntelchen „Ich tue etwas für dich“ holt sich die Person, die sich so verhält, in Wahrheit etwas von dem, den sie trösten will. Ich verurteile dieses Verhalten nicht, denn es geschieht ja unbewusst: Der Tröstende will ja wirklich trösten. Aber der Getröstete darf den Trost zurückweisen, wenn er ihm nicht hilft. Denn er soll ja etwas Gutes bekommen – und wenn es eben nicht gut für ihn ist, muss er es nicht aus Höflichkeit nehmen. Schließlich ist er durch den Verlust schon im tiefsten Tal angelangt, und da muss er nicht auch noch höflich sein. Finde ich. Damit habe ich meine Mutter bestärkt, die einerseits nicht ungefragt umarmt werden wollte, andererseits aber nicht unhöflich sein wollte.

Einfach da sein – das ist am wichtigsten.

In den paar Tagen, die ich nach dem Ableben meines Stiefvaters bei meiner Mutter verbrachte, bestätigte sich meine Vermutung, dass man vor allem jemanden braucht, der ruhig für einen da ist und vielleicht bei den anstehenden Verrichtungen unterstützt. Jemand, der selbst stabil ist. Jemand, der einen in den Arm nimmt und ein Taschentuch reicht, wenn man weinen muss. Jemand, mit dem man reden kann, dem man vertraut.

Es gibt keine funktionierenden Trostworte.

Wenn man jemanden tröstet, damit dieser nicht mehr traurig ist, setzt das den Getrösteten unter Druck: Er muss jetzt wieder fröhlich sein, sonst ist der Tröstende traurig, weil er keinen Erfolg hatte. Aber der Tod eines des geliebtesten Menschen ist so schlimm, dass es keinen Trost gibt. Kein Inhalt, kein „Kopf hoch, es wird wieder besser“ kann bewirken, dass man fröhlicher wird. Die Trauer dauert so lange, wie sie eben dauert, und meine Mutter sagt, sie kommt in Schüben. Man kann sie nicht verkürzen, höchstens verdrängen. Wir neigen so sehr dazu, Dinge schnell wieder fixen zu wollen, dass wir es nicht aushalten können, wenn jemand so traurig ist, dass er auf all unsere Bemühungen nicht reagieren kann. Trauer muss man einfach aushalten.

Bei Svens Beerdigung habe ich mich absichtlich fern von Sabine gehalten und ihr nur durch eine nahestehende Freundin herzliche Grüße und aufrichtige Anteilnahme ausrichten lassen. Ich denke oft an sie, traue mich aber nicht, sie anzurufen, weil wir uns ja gar nicht nahe genug stehen. Ich weiß, dass sie ein großes Netzwerk hat, das sie gut auffängt.

Und nun ist auch Nils gestorben, den ich nur über seine Frau kannte und nie privat getroffen habe. Bei den wenigen Telefonaten, die wir manchmal beruflich führten, fanden wir einander anstrengend. Aber sein Tod hat mich total bestürzt, denn ich verneige mich vor seiner harten, einsamen Kindheit, die ihm zu schaffen machte. Ich hätte ihm von Herzen ein langes glückliches Leben mit seiner Frau und seiner Tochter gewünscht. Nun wird er nie seine Enkel sehen, falls seine Tochter Kinder bekommt.

Beileidsbekundungen in Sozialen Medien

Wenn ich sehr entsetzt und erschüttert bin, fehlen mir alle Worte. Ich möchte dann am liebsten mein Schweigen mitteilen. Aber wenn ich schweige, schreibe ich ja nichts. Ausdrücklich schweigen ist nicht möglich und „………“ würde in einer Sprachnachricht seltsam aussehen. Auch traurige Gifs und Emojis erscheinen mir nicht angemessen, weil sie eher für Situationen passen, wo es der Person zwar schlecht geht, aber nicht soooo schlecht. Wenn es um echte Trauer geht, verbietet sich für mich der Gebrauch von Gifs und Emojis. Was ich dann schreibe, ist für mich immer eher eine Art Trägermaterial für das Mitgefühl, das ich transportieren möchte, als dass es auf den Inhalt ankäme.

Mein wichtigstes Fazit: Frieden schließen mit allen wichtigen Menschen.

Svens Tod hat mir hart gezeigt, dass es jederzeit plötzlich und unerwartet zu Ende sein kann. Und mir wird bewusst, dass die Todesfälle zunehmen werden, weil ich schon über 50 bin. Mein Vater und meine Mutter sind schon über 70, mein Mann 61 – zu wissen, dass so viel Abschiedsschmerz auf mich wartet, macht mir Angst. Und gleichzeitig bin ich dankbar für jeden Tag, an dem niemand gestorben ist, den ich kenne.

Seitdem sage ich meinem Mann jeden Abend, dass ich ihn liebe, weil es ja das letzte Mal sein könnte. Und auch wenn wir Streit haben, schließe ich wenigens noch einen kleinen „Schlafensfrieden“ mit ihm, damit ich nicht irgendwann als Witwe aufwache und mein Mann ist im Streit gegangen. Außerdem treffe ich bald meinen Vater, weil ich endlich Frieden mit ihm schließen will.
Denn wer weiß, wie viel Zeit ich noch habe.