„Das ist unhöflich!“ – Die Tücken der Höflichkeit

Im Rahmen der Erziehung meiner Kinder kam ich immer wieder in Konflikt mit dem Thema Höflichkeit, z.B. wenn ich nicht wollte, dass jemand meine Kinder für schlecht erzogen hielt. Wenn z.B. die Nachbarn gerade Kuchen aßen und meine Kinder liefen in ihren Garten und fragten, ob sie ein Stück haben dürften. Natürlich hatte ich nichts dagegen, dass sie Kuchen bekamen. Aber ich war besorgt, wie es den Nachbarn damit ging: Würden sie Nein sagen, wenn sie ihnen keinen geben wollen? Oder erwarteten sie von mir, dass ich sie gar nicht in diese Lage bringe, indem ich meinen Kindern einschärfte, dass man nicht „bettelt“? Und dachten sie nun vielleicht, dass ich meine Kinder schlecht erzogen hatte, weil sie noch nicht diese innere Sperre hatten, welche bei den meisten Erwachsenen vorhanden ist?

Als meine Kinder noch kleiner waren, hatte ich immer die Sorge, dass es auf mich zurückfalle, wenn meine Kinder „unhöflich“ waren: Ich war es, die etwas falsch gemacht hat. Und auch wenn ich wusste, dass das nur Konvention ist, fürchtet sich ein Teil von mir davor, etwas „falsch“ zu machen. Denn dann will vielleicht keiner mehr etwas mit mir zu tun haben. Dann gehöre ich nicht mehr dazu.

Um dieses Problem zu lösen, habe ich sehr genau beobachtet, was das eigentlich ist – „höflich“, wie es dazu kommt, dass man jemanden unhöflich findet, wie man damit umgeht, wenn man jemanden als unhöflich bewertet und wie sich das auf die Beziehung auswirkt.

Höflichkeit ist kein Bedürfnis, sondern ein Wert. Und dieser Wert ist extrem kulturabhängig. Die Höflichkeitsmaßstäbe sind nicht nur von Kultur zu Kultur unterschiedlich, sondern sogar innerhalb von Familiensystemen.

Als ich in meiner Übungsgruppe gefragt habe, was Höflichkeit bedeutet und was sie unter höflichem Verhalten verstehen, erhielt ich sehr unterschiedliche Antworten. Für manche bedeutete es, dem Anderen die Tür aufzuhalten, in den Mantel zu helfen, einander die Hand zu geben. Für andere bedeutete es, seine schlechte Laune nicht an Anderen auszulassen und allgemein immer freundlich zu sein. Für wieder andere bedeutete es, hilfsbereit zu sein. Und für weitere Andere bedeutete es, ein Nein freundlich zu verpacken. Natürlich gab es auch Überschneidungen.

Das Schwierige am Wert Höflichkeit ist also, dass zwar jeder etwas Anderes darunter versteht, dass aber jeder denkt, die eigenen Höflichkeitsmaßstäbe sind allgemeingültig. Wenn man sich Mühe gibt, höflich zu sein, bedient man die Bedürfnisse Zugehörigkeit, Beitragleisten, Akzeptanz bzw. Liebe: Wir verhalten uns auf eine bestimmte Weise, die wir von unseren Eltern oder Großeltern gelernt haben. Oft war dieses Lernen mit Schmerzen verbunden – wenn wir uns anders verhalten haben, wurde uns (zumindest kurz) die Zugehörigkeit oder Liebe entzogen. Wir wurden schuldig, hatten die entsprechenden Schuldgefühle, erhielten die Verantwortung für die Gefühle Anderer übertragen („Wegen dir ist die Mama jetzt traurig!“).
Verhielten wir uns hingegen so, wie die Erziehungspersonen es erwartet haben, gehörten wir dazu, wurden geliebt, vielleicht sogar gelobt – oder zumindest nicht getadelt.
Da das Leben eines Kindes davon abhängt, dazuzugehören, haben wir gelernt, uns auf dem schmalen Grat des sozial anerkannten Verhaltens zu bewegen.
Wir waren brav.
Und wenn Erwachsene brav sind, nennt man das höflich.

Das Problem ist, dass man sich noch so sehr anstrengen kann, höflich zu sein, man kann es doch nicht allen recht machen. Denn wie ich oben schon ausgeführt habe, hat nicht nur jede Kultur verschiedene Höflichkeitsmaßstäbe, sondern sogar jede Familie:

Bsp.:
Für Familie Schmidt mag es höflich sein, von sich zu erzählen – und keine Fragen zu stellen. Man fragt einander nicht aus, sondern wartet, bis jemand von selbst zu sprechen beginnt. Einander den Raum zu geben, sich mitzuteilen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wird als höflich betrachtet.
In Familie Schulz ist es genau andersherum: Man wartet, bis man gefragt wird. Ungefragt erzählt man nichts von sich. Wenn man gefragt wird, weiß man, dass der Andere es wirklich wissen will. Einander nicht mit Geschichten zu behelligen, die der Andere nicht abgefragt hat, wird als höflich betrachtet.

Wenn sich Hermine Schmidt und Susanne Schulz kennenlernen, werden sie einander unweigerlich als unhöflich erleben: Hermine wird von sich erzählen und sich nichts dabei denken. Sie wird sich wundern, warum Susanne nie von sich spricht. Vielleicht wird sie Susanne sogar für verstockt oder verschlossen halten.
Susanne hingegen wird ärgerlich sein, warum Hermine nie fragt, wie es ihr geht. Sie wird sie vermutlich ins Unrecht setzen, weil Hermine immer nur von sich spricht und ihr, Susanne, keinen Raum gibt. Sie wird denken, Hermine interessiere sich nicht für sie.
Hermine wird zunehmend unsicher werden, weil sie doch „alles richtig macht“ und dennoch spürt, dass Susanne beleidigt ist. Vielleicht wird sie Susanne „komisch“ finden. Susanne ihrerseits wird vielleicht denken, dass Hermine sich ständig in den Mittelpunkt stellen will.
Je nach dem, wie bewusst und reflektiert die beiden sind, werden sie entweder herausfinden, woran ihre Differenzen liegen – oder sie werden den Kontakt abbrechen.

Für mich bedeutet Höflichkeit immer, dass jemand nicht authentisch ist. Denn für die meisten Menschen ist es so, dass sie sich schon dann „richtig“ verhalten, bevor sie Kontakt zu ihren eigenen Gefühlen aufgenommen haben: Man sagt so schnell „Ja“, dass man noch gar keine Zeit hatte, das innere „Nein“ zu spüren.

Dies hat zwei Nachteile: erstens handelt man inauthentisch, weil man das innere „Nein“ zugunsten eines höflichen „Ja“ übergangen hat. Da man dieses inauthentische Ja zumindest unbewusst als Opfer empfindet, erwartet man zweitens, dass der Andere sich ebenso verhält. Man denkt: „Wenn ich sofort Ja sage, muss der Andere das auch machen, denn das ist höflich, und alles andere wäre ungerecht“. Wenn der Andere das aber nicht sagt, weil er z.B. andere Höflichkeitsparameter hat, wird er vom Ersten ins Unrecht gesetzt.

Ich gebe zu, ich stehe mit dem Wert Höflichkeit ziemlich auf Kriegsfuß. Dies liegt zum einen daran, dass mir immer bewusst ist, dass ich einfach nicht genügend Informationen habe, um mich mit Menschen, die ich nicht gut kenne, so verhalten zu können, dass sie es als höflich empfinden. Aber auch mit Menschen, die ich besser kenne, gerate ich oft in das Dilemma, mich entweder für Harmonie bzw. eine gute Grundstimmung oder für Authentizität entscheiden zu müssen. Wie ich diese beiden Bedürfnisse grundsätzlich unter einen Hut bekommen kann, habe ich noch nicht herausgefunden.

Wie sich Höflichkeit für mich darstellt:

1. Umso mehr Höflichkeit, umso weniger Nähe.
In meiner Ursprungsfamilie und in meiner aktuellen Familie möchte ich so sein dürfen, wie ich bin. Ich erwarte, dass auch Konflikte die Beziehung nicht so nachhaltig stören, dass sie zerbricht. Enge Beziehungen auch mal strapazieren zu können, ist für mich ein Zeichen für große Nähe und Vertrauen. Dies gilt auch für enge Freunde. Wenn ich in solchen Beziehungen Höflichkeit erlebe, bin ich irritiert und fast traurig, weil ich den Anspruch habe, dass das nicht nötig ist.

Der Bäckersfrau, den Nachbarn oder gar Fremden gegenüber bin ich jedoch sehr höflich, schneide keine persönlichen Themen an und gehe nicht über Smalltalk hinaus. Ich erwarte nicht, dass ich die Beziehung strapazieren kann. Wenn jemand ein Anliegen an mich heranträgt, das ich nicht erfüllen möchte, bemühe ich mich sehr, mein Nein so zu verpacken, dass er es gut nehmen kann.

2. Höflichkeit wächst auf einem anderen Boden als Freundlichkeit
Höflichkeit wächst auf dem Boden des „Richtigmachens“ – man könnte auch sagen, man ist brav, denn man verhält sich anders, als einem zumute ist. Man ist z.B. auch zu Menschen höflich, die man gar nicht mag. Damit man sie nicht verletzt. Und die Motivation, den Anderen nicht zu verletzen, ist vor allem, nicht schuldig an seinem Schmerz zu sein.

Und höfliches Handeln ist oft ritualisiert: Manche Menschen hassen es z.B. offensichtlich, jemandem die Hand zu geben. Man merkt dies daran, dass die Hand entweder wie ein toter Fisch in der eigenen Hand liegt, oder daran, dass sie den handgebenden Arm bogenförmig vom Körper abspreizen. Er wirkt wie ein Bollwerk und soll eigentlich nur Abstand herstellen.

Und wenn ein Mann einer Frau die Tür aufhält, tut er dies oft nicht, weil er daran zweifelt, dass sie es selbst kann, und auch nicht, weil die Tür so schwer ist. Vielleicht tut er es nicht einmal, weil er der Frau etwas Gutes tun will, sondern nur, weil er mit seinen guten Manieren punkten will. In der Regel tut er es also für sich.

Noch ein Beispiel aus dem Bereich Tischmanieren: Meine eine Tochter hielt Gabel und Löffel lange mit der (lockeren) Faust statt zwischen Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. Mir ist bekannt, dass irgendwo im Knigge steht, dass man den Löffel anders halten muss. Aber wieso eigentlich? Wieso ist das eine richtiger als das andere? Wenn sie es jetzt anders macht, dann nur, weil „man es anders macht“. Um dazuzugehören. Nicht, weil es praktischer ist.

Freundlichkeit ist anders:
Wenn ich mich freundlich verhalte, tue ich dies aus der Freiheit heraus, mich auch anders verhalten zu dürfen:
Nur wenn ich die reale Wahl habe, auch unfreundlich zu sein, kann ich überhaupt wirklich freundlich sein. Dann halte ich die Tür auf, damit der alte Mann es mit seinem Stock nicht so mühsam hat – und nicht, damit mich niemand missbilligend anschaut. Dann stehe ich im Bus auf, weil ich sehe, dass die alte Frau kaum auf ihren Beinen stehen kann.
Die Motivation ist dann nicht, „richtig“ sein zu wollen. Sie liegt darin, das Leben eines Anderen zu verschönern, einen Beitrag zu leisten.
Und wenn ich versuche, niemanden durch mein Verhalten zu verletzen, dann nicht, weil ich Angst davor habe, schuld an seiner Verletztheit zu sein, sondern aus Mitgefühl und Verständnis. Und falls ich durch mein Verhalten beim Anderen tatsächlich Schmerz ausgelöst habe, dann kann ich dies tief bedauern – ohne mich schuldig zu fühlen.

3. Höflichkeit ist meist ein Handel
Mit meiner Mutter – die ich sehr liebe! – erlebe ich oft, dass sie mir am Telefon erzählt, was sie im Restaurant gegessen hat, dass sie sich Tulpen gekauft hat, um den Frühling zu begrüßen oder in welchen Geschäften sie war, um ein bestimmtes Geschenk für meine Kinder zu kaufen.
Meine Mutter ist 68 und durchaus zu tieferen Gesprächen in der Lage. Wäre sie hingegen schon 80, würde ich mir das alles klaglos anhören, weil ich dann vermuten würde, dass sie schon ein wenig abbaut.
Da ich eine sehr gute und offene Beziehung zu meiner Mutter habe, sage ich ihr oft, wenn mich ein Thema nicht interessiert. Sie ist dann meist ein bißchen beleidigt und hält mir vor, sie würde sich doch auch anhören, was ich erzählen würde, daher solle ich mir jetzt auch anhören, was sie erzählen wolle.
Mit anderen Worten: sie lässt mich reden, obwohl mein Thema sie nicht interessiert – aus Höflichkeit. Und als Gegenleistung erwartet sie, dass ich sie nun auch reden lasse.

Ich habe schon oft mit ihr darüber gesprochen, dass ich nicht will, dass sie sich etwas anhört, das sie nicht interessiert. Es geht mir nicht darum, um jeden Preis sprechen zu dürfen. Ich will etwas nur dann erzählen, wenn es mein Gegenüber interessiert, weil ich Verbindung herstellen will. Wenn das nicht möglich ist, spreche ich lieber gar nicht.

Und ich will auch selbst nicht Geschichten hören, die mich nicht interessieren. Natürlich bin ich sehr interessiert, etwas von meiner Mutter erfahren: wie es ihr geht, was sie fühlt und so weiter. Aber es interessiert mich nicht, ob sie beim Italiener eine Pizza oder eine Lasagne gegessen hat, und mein Leben ist auch nicht durch die Information bereichert, dass sie jetzt Tulpen auf dem Tisch stehen hat.
Jedes Mal, wenn ich es ihr so erkläre, ist sie wieder besänftigt. Bis zum nächsten Mal…

4. Höflichkeit kann echte Verbindung verhindern
Es kommt oft vor, dass man mit Menschen spricht, die entweder allgemein viel reden, oder sie sprechen über Themen, die uns nicht interessieren. Wenn man unbedingt höflich sein will, hat man zwei Möglichkeiten, mit solchen Situationen umzugehen:

a) Man redet sich raus: Die Milch läuft über, ich muss auf’s Klo, es klingelt etc.
Das ist elegant, kostet nichts – ist aber leider nicht ehrlich. Wenn man mit der Person öfter spricht, könnte es sein, dass sie sich über den hohen Milchkonsum wundert oder einen zum Urologen schickt, weil es doch nicht gesund sein kann, so oft pinkeln zu müssen.

b) Man traut sich nicht, zu sagen, dass das Thema einen nicht interessiert, weil man Angst hat, der Andere könnte sich ärgern oder verletzt reagieren. Man will nicht unhöflich sein. Man hört also weiterhin tapfer zu und streut nur manchmal ein „M-hm“ ein. Der Andere wird ja hoffentlich irgendwann mal merken, dass er zu viel redet.
Dies ist ein Machtspiel. Denn ab einem bestimmten Zeitpunkt wird der höfliche Zuhörer ärgerlich, dass der Sprecher nicht zu reden aufhört („Man muss doch irgendwann mal merken, dass es zuviel ist!“). Weil der höfliche Zuhörer Angst hatte, dass der Sprecher ärgerlich auf ihn werden könnte, hat er lieber weiter zugehört. Ihm ist es lieber, selbst ärgerlich auf den Sprecher zu sein und diesen für seine Unhöflichkeit ins Unrecht zu setzen, anstatt zu riskieren, selbst als unhöflich zu gelten. Und das ist das Machtspiel.
Eine gute Verbindung haben die beiden nicht – sie ist in dem Moment verschwunden, als der Zuhörer eigentlich nicht mehr zuhören wollte, dies aber nicht gesagt hat. Der Zuhörer hat aber den Vorteil, dass er zumindest weiß, dass die Verbindung abgebrochen ist. Der Sprecher spricht vielleicht noch eine Weile weiter, bis er dies bemerkt. Und spricht so lange ins Leere.

5. Umso strenger man erzogen wurde, umso höflicher müssen die Anderen sein
Wenn man in der Kindheit sehr „brav“ sein musste, hat man viel von seiner Lebendigkeit abgeschnitten. Die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel haben einen schmalen Pfad an tolerierten Verhaltensweisen vorgegeben, und wahrscheinlich auch statische Sätze verwendet wie „Du bist aber ein böser Junge!“, „Sei brav!“, „Sei nicht so egoistisch!“ etc.
Wenn man sich sehr viel Mühe gegeben hat, ein gutes Mädchen oder ein guter Junge zu sein, erwartet man nicht nur, für sein Bravsein (das später Höflichkeit heißt) selbst Anerkennung zu bekommen. Man erwartet auch automatisch, dass die Anderen sich ebenso verhalten: wenn sich jeder verhalten könnte wie er wollte, ohne die Zugehörigkeit und die Liebe zu verlieren, wäre die ganze Anstrengung, immer brav zu sein, völlig umsonst gewesen. Dann wäre es auch umsonst gewesen, dass man sich von seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen abgeschnitten hat.

Und ganz aktuell habe ich herausgefunden, warum es so sinnvoll ist, wenn Kinder einen Erwachsenen so lange triezen, bis er aus der Haut fährt: nur so können sie erkennen, wo seine Haut ist (um im Bild zu bleiben). Wann jemand schreit, ist sowas wie ein Grenzstein für’s Gegenüber: „Aha, da ist also seine Komfortzone zu Ende“.
Blöd nur, wenn man gelernt hat, nicht unfreundlich sein zu dürfen – dann latschen die Anderen (z.B. ich) blind überf alle Grenzen, und der arme Freundliche weiß sich nicht mehr zu helfen: „Die müsste doch merken, dass man das nicht macht!“