Ich war vom 13. bis 20. August mit meiner Familie auf einer Familienfreizeit für Gewaltfreie Kommunikation. Es war meine vierte Freizeit, und sie war die herausforderndste und berührendste, die ich je erlebt habe.

Schon am Ankunftstag zeichnete sich ab, dass diese Freizeit anders sein würde als die anderen. Erstens bildeten mein Mann, meine Kinder und ich zunächst die einzige Familie mit Mutter, Vater und Kindern, alle anderen waren alleinerziehend. Erst nach zwei Tagen kam eine weitere Familie an, wo die Elternteile noch zusammen sind.
Zweitens waren von 68 Teilnehmern nur 28 Erwachsene.
Drittens stammten 25 Personen aus äh… sozial benachteiligten Verhältnissen.

Zuerst dachte ich: „Ach, du lieber Gott – was wollen denn diiie hier?“
Ja, ich weiß, dass das nicht politisch korrekt ist. Aber das ist es doch, was wir übereinander denken, wenn wir die andere Lebensweise nicht kennen, oder?

Alle meine Vorurteile trieben große Blüten, denn ich kannte solche Menschen bis dahin nur dem Privatfernsehen.

Und auch diese Mütter fühlten sich sehr deplaziert. Das Kennenlern-Plenum war laut und unruhig, und ich fragte mich, ob ich in der richtigen Veranstaltung war. Bei der Vorstellungsrunde zuckte ich zusammen, als diese Frauen über sich und ihre Kinder sprachen. „Der Vater will nichts mehr von uns wissen“, „Der P. ist mein Problemkind“, „Der Vater ist Säufer und kümmert sich nicht um A.“ Eine Mutter nannte ihre vier Kinder „kleine Kröten“. Ich musste tief durchatmen. Und wollte erstmal nichts mit ihnen zu tun haben.

Und sie mit uns eigentlich auch nichts. Die Mütter wussten nämlich gar nicht, was sie erwartete. Die Stiftung hatte ihnen nichts gesagt. Sie hatten sich daher auf eine heitere Frauenfreizeit eingestellt, in der man sich austauscht, gemeinsam etwas unternimmt, spielt, wandert, vielleicht auch shoppt. Gelandet waren sie jedoch in einer Veranstaltung, in der es darum ging, sich mit Kommunikation auseinanderzusetzen, und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie sahen uns als Ökos.

Wir alle hatten Vorurteile über- und gegeneinander und betrachteten uns argwöhnisch – zumindest weiß ich das von den Frauen und von mir persönlich (vielleicht waren andere Mütter in dieser Hinsicht weiter als ich?).

Ich versuchte, sie auszublenden und bezog mich einige Tage lang nur auf die Mütter, die ich normal fand: Lehrerinnen, Sozialpädagoginnen, Yogalehrerinnen etc. Das war meine Wellenlänge. Menschen aus einem sozial benachteiligten Umfeld gehörten nicht dazu.

Die „anderen“ Mütter verbrachten die meiste Zeit in einem anderen Raum als wir und nahmen nur zögerlich am Seminarangebot teil. Eine große, kräftige, schwarzhaarige Frau von ca. 50 Jahren, mit drei Piercings, scharfen Gesichtszügen und tiefer Stimme drückte es so aus: „Das ist hier nicht unsere Welt. Ihr seid Ökos, wir sind Assis, das passt einfach nicht zusammen“.

Am zweiten Tag fiel die ca. anderthalbjährige Tochter einer „sozial benachteiligten“ Mutter (ich nenne sie mal Juno, weil sie mich an die gleichnamige Heldin aus dem Film erinnert) von der Rutschbahn. Da das Mädchen ruhig am Boden lag, dachte Juno (ca. Mitte 20), es sei nichts Schlimmes passiert. Eine der Trainerinnen empfahl jedoch, sofort ins Krankenhaus zu fahren. Dort stellte sich heraus, dass der rechte Arm und das Schlüsselbein des Mädchens gebrochen waren, und dass sie nur wegen des Schocks so ruhig gewesen war.

Vielleicht war das der Wendepunkt? Jedenfalls änderte sich die Stimmung. Ich glaube, die Frauen sahen dadurch, dass wir uns wirklich um sie kümmerten. Es gab viele kleine Begegnungen. Zwar kamen immer noch nicht alle Frauen zu allen Seminarangeboten (Morgenrunde, Abendrunde, Spiele, Kleingruppenarbeit usw.), aber es wurden immer mehr. Nur zwei nahmen fast an gar nichts teil – vielleicht deshalb, weil sie schlecht deutsch sprachen?

In einer intensiven Kleingruppe mit vier Teilnehmern lernte ich die Mutter der vier Kinder näher kennen, die ihre Kinder „kleine Kröten“ oder eins sogar „Made“ (also Wurm) genannt hatte (ich nenne sie Beth, nach der Leadsängerin der Gruppe Gossip). Beth lebt mit einem Mann aus einen anderen Kontinent zusammen, der den ganzen Tag in einer Besenkammer am PC sitzt und sich buchstäblich an nichts beteiligt – außer Kosten zu verursachen. Sie erzählte uns ihre Lebensgeschichte, und ich will nicht mehr sagen, als dass ihre Biografie alle klassischen Faktoren enthält, die jemandem das Leben so richtig verpfuschen können.

„Ich wollte endlich eine intakte Familie haben. Ich wollte Kinder, weil Kinder einen lieben, wie man ist.“

Eigentlich ging es in dieser Runde darum, Beth Empathie für ihren Schmerz zu geben. Aber damit konnte sie gar nichts anfangen. Sie weinte zwar manchmal kurz, aber immer wieder sprang sie von ihren Gefühlen weg und erzählte Geschichten darüber, wie blöd sich ihr Freund verhalte.

Mir wurde sehr klar (und sie bestätigte das auch), dass sie sich einfach nicht leisten kann, ihren Schmerz zu fühlen. Beth muss mit ihren 25 Jahren die ganze Familie zusammenhalten, das älteste Kind ist 6 Jahre, das jüngste ca. 10 Monate alt. Wenn sie sich ihren Gefühlen hingibt, bricht alles weg, was die Familie zusammenhält. Sie ist sehr übergewichtig, geht nie aus, tut nichts für sich, alles ist für die Kinder. Und ja, sie schreit sie an, und ja, ich kann es kaum aushalten, aber sie ist für ihre Kinder da. Sie stemmt alles alleine, ohne ein Vorbild zu haben, wie sich eine liebende Mutter verhalten könnte.

Und ich begann, sehr viel Respekt zu entwickeln. Und sie zu mögen.

Sie bat um einen Rat, was sie tun könne, damit ihr Freund sich endlich ändere. Sie habe sich doch schließlich auch so sehr für ihn geändert!
Ich sagte: „Du kannst ihn nicht ändern. Hör auf, es zu versuchen. Wenn du Liebe und Zugehörigkeit brauchst, such’ dir das lieber bei Freundinnen. Hör auf, es von deinem Kerl zu erwarten. Das ist Energieverschwendung. Wenn er sowieso glaubt, du würdest nichts für ihn tun, dann verwende deine Energie lieber für dich selbst und deine Kinder.“ Sie bedankte sich. Und am letzten Tag erzählte sie, sie habe eine Stunde mit ihrem Partner telefoniert, ohne ihm Vorwürfe zu machen. Wow.

An einem Nachmittag, als alle im Schwimmbad waren, kam ich auch mit der Mutter des gestürzten Mädchens in Kontakt. Sie erzählte mir, wie seltsam sie mich und meinen Mann gefunden habe. Sie finde es unnormal, wie mir miteinander umgehen, fast unwirklich. Ich erzählte ihr, dass ich nicht immer so gewesen sei, und dass ich auch Tage habe, in denen ich herumschreie, weil ich in Not bin. Als sie über den Vater ihrer Kinder sprach, und wie sehr sie sein Verhalten missbillige (auch wenn sie ihn noch liebe), erzählte ich ihr viel darüber, dass jeder Mensch sich aus seiner eigenen Sicht vollkommen normal verhält und einfach nicht anders kann.

Wir hatten in diesem Gespräch viel Nähe und beendeten es mit einer sehr herzlichen Umarmung.

Und am beachtlichsten war mein Verhältnis zu der großen Frau mit den scharfen Gesichtszügen und den vielen Piercings, ich nenne sie mal Walküre (nimm es mir nicht übel, falls du das liest!!!). Mir war aufgefallen, dass ihr Sohn sehr freundlich war, obwohl sie einen Feldmarshall-haften Ton hatte, und ich vermutete, dass er wohl spüren muss, dass sie ihn liebt.

Sie wollte einmal mit mir den Abwaschdienst tauschen, und ich willigte ein. Doch als ich dran war, realisierte ich, dass ich an diesem Tag die einzige gewesen wäre, die den Mittagessenabwasch für 70 Leute hätte machen müssen und rief um Hilfe. Und dann spülte Walküre doch selbst, und innerhalb kürzester Zeit hatte sie mit noch zwei anderen Müttern fast alles allein gespült. Und machte mir keine Vorwürfe. Ich war sehr gerührt.

Walküre nahm auch einmal (unter großem Vorbehalt!) an einer Seminarrunde teil, in der wir um Gefühle und Bedürfnisse sozusagen Poker spielten: uns wurden erst Gefühlskärtchen und dann Bedürfniskärtchen ausgeteilt, ein Teilnehmer erzählte eine Situation, und wir schlugen ihm die passenden Kärtchen vor, die wir „auf der Hand“ hatten.

Als Walküre auf unsere Anregung hin ihr Sichdeplaziertfühlen als Situation zur Verfügung stellte, erzählte sie, dass alle Männer Angst vor ihr hätten, aber dass sie einfach sehr gut für sich selbst sorgen könne: „Wenn ich in eine Kneipe reinkomme, in der nur Kerle sitzen, und sage `Hallo Mädels`, dann gehört die Kneipe nach zwei Stunden mir!“ Ich glaubte ihr sofort.

Sie verlässt sich auf niemanden und vertraut niemandem, aber sie hat ihr Leben voll im Griff. Sie schaue nicht nach hinten, nur nach vorne, und wenn jemand mit ihr nicht einverstanden sei, sage sie „Da ist die Tür!“. Sie saß mir direkt gegenüber, und ich spürte, wie sich mein Herz bei jedem Wort weiter öffnete.

Man darf Walküre nicht ohne vorherigen Antrag berühren, sie hört am liebsten Heavy Metal und liebt Filme, bei denen „das Blut aus dem Fernseher spritzt“, aber mir wurde immer deutlicher, dass sich dahinter ein sehr vorsichtiges und mitfühlendes Herz verbirgt – das schon oft verletzt wurde.
Ich habe sehr viel Achtung vor ihr. Und ich habe sie sehr gern.

Ich bin jetzt wirklich sehr froh, dass diese Frauen an der Freizeit teilgenommen haben, denn so hatte ich Gelegenheit, sie in mein Herz zu schließen – und damit alle anderen Frauen, die genauso leben müssen wie sie.

Ich habe ihre Tapferkeit gesehen, die angesichts von so wenig Unterstützung irgendwie „ihr Ding machen“ und für ihre Kinder da sind. Wir alle haben uns aneinander angenähert und uns über alle Vorurteile hinweg (die auf beiden Seiten da waren) miteinander verbunden.

Und auch wenn das jetzt melodramatisch klingt, konnte ich sehen, dass wir wirklich alle miteinander verbunden sind und alle den gleichen Kern haben. Und das ist ein sehr kostbares Geschenk für mich.

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