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Wahrnehmung spielt sowohl in der Werbung eine wesentliche Rolle als auch in der Kommunikation – und natürlich auch im Recht. Was nehmen wir wahr? Was nicht? Und warum?

1998 habe ich ein Referat zum Thema „Zeugenaussagen vor Gericht“ gehalten, in dem es hauptsächlich um Wahrnehmung ging. (Quelle: Rolf Bender/Armin Nack: Tatsachenfeststellung vor Gericht, Band I, Glaubwürdigkeits- und Beweislehre, 2. Aufl. 1994).

Was nehmen wir wahr?

Unter Wahrnehmung versteht man die sinnhafte Verarbeitung empfundener Reize. Wie und was man wahrnimmt und ob und wie lange man es sich merkt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab:

Wichtig für die Wahrnehmung ist z.B. sind die geistige, die seelische und die körperliche  Verfassung einer Person:

  • Geistig: Das Gehirn kann nur eine begrenzte Menge Informationen verarbeiten und trifft daher eine Auswahl.
  • Seelisch: Die Gefühle (glücklich, traurig, selbstbewusst, unsicher, aufgeregt etc.), entscheiden, was/wie man wahrnimmt (Bsp: Dem Fröhlichen ist jedes Unkraut eine Blume, dem Betrübten jede Blume ein Unkraut.)
  • Körperlich: Wenn man müde, alkoholisiert, krank, etc. ist, nimmt man weniger/anders wahr als im wachen Zustand.

Außerdem kommt es für die Wahrnehmung darauf an, welche (unbewusste) Entscheidung man getroffen hat, was warum wahrgenommen wird:

  • Verständnis: Was man intellektuell versteht, wird man eher wahrnehmen und behalten. ( Ich z.B. habe als Kind den „Internationalen Frühschoppen“ nie verstanden und sah nur Männer in Anzügen, die über langweilige Themen sprachen.)
  • Interesse: was uns interessiert, werden wir eher (deswegen aber nicht unbedingt richtiger!) wahrnehmen und besser behalten (Der Actionfilm-Liebhaber wird den Liebesfilm schlechter nacherzählen können als der Liebesfilm-Fan.)
  • Motivation: das, woran man gefühlsmäßig beteiligt ist, wird man eher wahrnehmen und behalten (Der Wunsch ist der Vater der Wahrnehmung). Und als Teil einer Gruppe will man das Gleiche wie alle wahrnehmen. (Bsp: Ein Journalist erfand eine Geschichte über das Bild einer nackten Frau, das in einer bestimmten Kleinstadt auf einer frisch gestrichenen Toilette festgeklebt sei. Bei einem Besuch in der Kleinstadt traf er Leute, die dies bezeugen wollten.)
  • Körperlich: Sinnesorgane arbeiten begrenzt: Die Augen gewöhnen sich schwerer (und mit zunehmendem Alter noch schwerer) an Dunkelheit als an Licht. Die akustische Wahrnehmung ist meist unklar und subjektiv. Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn sind unzuverlässig. Oft wird behauptet, etwas gerochen zu haben, obwohl kein Geruchsreiz da war.

Und schließlich kommt es noch darauf an, wie der wahrgenommene Reiz sich verhält:

  • Stärke: je intensiver, desto größer ist die Chance, wahrgenommen zu werden.
  • Veränderung: je länger ein Reiz gleichbleibt, desto weniger wird er wahrgenommen.
  • Umgebung und Kontrast: alles, was man wahrnimmt, sind Unterschiede. Der Reiz muss von der Umgebung abweichen (im Kontrast stehen), um wahrgenommen zu werden. Alles, was neu ist, wird wahrgenommen, wenn es zum alten in ausreichendem Kontrast steht. Man neigt sogar dazu, zu glauben, das Gewohnte auch dann wahrgenommen zu haben, wenn es ausnahmsweise nicht stattgefunden hat.

Wie interpretieren wir das Wahrgenommene?

Wir ergänzen (vgl. auch unter Erinnerung): wahrgenommene Bruchstücke werden zur Ganzheit „sinnvoll“ ausgefüllt – man meint dann, „das Ganze“ gesehen zu haben. Man nimmt nur bewusst wahr, was man bewusst beobachtet – und man beobachtet nur bewusst, wovon man schon eine Vorstellung hat (Erfahrung). Das führt auch zu Vorurteilen. Als Steigerung der Ergänzung zieht man auch noch eine Schlussfolgerung. Außerdem denkt man sich bei allen wahrgenommenen Geschehnissen Ursache und Wirkung mit dazu und meint, dass man sie ebenfalls wahrgenommen hat.

Wie funktioniert die Erinnerung?

1. Das Gedächtnis allgemein:

Im Ultra-Kurzzeitgedächtnis kreist der Input 10-30 Sekunden und geht dann entweder ins Kurzzeitgedächtnis, oder löst eine Reaktion (körpersprachliche /Automatismen) aus und wird sofort vergessen. Im Kurzzeitgedächtnis wird Input 15-30 Minuten gespeichert. Das Langzeitgedächtnis speichert Regeln (Programme) und Erlebnisse ab, die bei bei Bedarf abgerufen werden. Es speichert nur Informationen, die Assoziationen hervorrufen.

2. Erinnerungs“fehler“

Je länger das wahrgenommene Ereignis zurückliegt, umso mehr wird vergessen (Vergessenskurve verläuft asymptotisch). Je intensiver man kurz vorher oder nachher von anderem in Anspruch genommen wurde/wird, umso leichter wird vergessen. Je schwächer der Eindruck, umso schneller wird vergessen.

 

Was geschieht mit der Wahrnehmung, die man nicht vergisst?

Das Gehirn ist wie ein Material, in welchem die früher gemachten Wahrnehmungen Vertiefungen hinterlassen haben, welche „Muster“ der wahrgenommenen Vorgänge (Grundmuster) bilden. Kommen neue dazu, tendieren diese, sich in Richtung der schon vorhandenen zu strukturieren. Das hat Folgen:

Angleichung (Assimilation): Je ähnlicher eine Wahrnehmung einem etablierten Muster ist, umso weniger wird sie als selbständiges (neues) Muster erinnert.

Verfestigung: Je etablierter die vorhandenen Muster, umso schwieriger ist eine Veränderung, deshalb werden gewisse Abweichungen vom Gewohnten nicht wahrgenommen.

Zeitfolge: Wenn mehrere Wahrnehmungen in zeitlicher und örtlicher Nähe stattfinden, wird die Verstärkung des Grundmusters begünstigt.

Abwehrmechanismen

Manches wollen wir nicht wahrnehmen bzw. wahrhaben.

Rationalisierung: Man findet bei eigenem (z.B. sozial nicht anerkannten) Verhalten nachträglich „gute Gründe“.
Bsp: Der Geizige sagt sich: ich gebe nichts für Hilfsorganisationen, denn das meiste meiner Spende bliebe ja doch bei der Verwaltung hängen, und den Rest reißt sich der Vorstand unter den Nagel.

Verleugnung: Man weigert sich, etwas wahrgenommen zu haben, oder wahrzunehmen, dass etwas Bestimmtes stattgefunden hat.

Verdrängung: Der Vorgang oder das Gefühl wird aus Bewusstsein verdrängt und nicht mehr erinnert/gefühlt.

Projektion: Eigene (z.B. schlechte) Eigenschaften werden bei anderen erwartet und gesehen. Bsp: Der Betrüger erwartet überall, betrogen zu werden.

Verkehrung ins Gegenteil: Aus Schutz der eigenen Person wird das Gegenteil des tatsächlich Geschehenen als erlebt abgespeichert.

 

Fehler bei der Wiedergabe

Gedächtnisverlust: Man kann nicht zu jeder Zeit alle vorhandenen Erinnerungen abrufen

Erinnerungsschätzungen: Kurze Zeiträume und Entfernungen werden überschätzt, lange werden unterschätzt; Geschwindigkeitsschätzungen sind ganz unzuverlässig, Mengenschätzungen sind nur bei sehr geringen Zahlen verlässlich

Aussage-„verfälschungen“, absichtliche Auslassungen oder Hinzufügungen

Missverständnisse: Man kann oft die Vorstellung des zu erzählenden Vorgangs nicht so in Worte fassen, dass beim Zuhörer dieselbe Vorstellung entsteht.