Kürzlich wohnte ich einem Konflikt bei, in dem die eine Partei der anderen (ich nenne sie Lolek und Bolek) vorwarf, sie würde sich nicht gehört fühlen. Lolek warf Bolek vor, er habe ihm schon 50x gesagt, dass er eine bestimmte Leistung unbedingt brauche, und Bolek sage zwar immer, er höre ihn, aber es TUE SICH JA NICHTS. Er fühle sich nicht ernstgenommen. Bolek erwiderte, dass er ihn schon gehört habe,  dass er sich mit seinem Team auch ausführlich darüber auseinandergesetzt habe, aber dass diese Leistung einfach nicht vorgesehen sei.

Lolek konnte das nicht verstehen. Und ich kann verstehen, dass er es nicht verstehen kann.
Wenn man nämlich daran gewöhnt ist, zu diskutieren und in der Unterscheidung Recht / Unrecht zu leben, dann folgt aus der Aussage „Ich höre dich“ oder „Ich nehme dich ernst“ automatisch: „Du hast Recht.“
Und wenn man Recht hat, kriegt man in der Regel das, was man haben wollte. Weil der andere es ja eingesehen hat. So weit, so logisch.

„Ich höre dich“ heißt aber keineswegs, dass man die Meinung des anderen teilt. Es heißt nur, dass man ihn gehört hat. Auch wenn man jemanden ernstnimmt, heißt das nicht, dass man ihm zustimmt.

Ich kann mich gut in Menschen einfühlen, sogar in Rechtsradikale, um mal gleich ein besonders krasses Beispiel zu verwenden. Wenn ich mich in ihren niedrigens Bewusstseinsstand einklinke, kriege ich mit, wie viel Angst sie haben, wie sehr sie auf ein Gut/Böse-Schema angewiesen sind und wie angenehm es ist, einen Sündenbock für bestimmte Themen zu haben. Ich kann den Teamgeist fühlen, den rechtsradikale Vereinigungen vermitteln, und ich kriege mit, dass wie gut es tut, einem Führer zu gehorchen, weil man dann nicht selbst denken muss. Ich kann mich also einfühlen. Und dennoch bin ich weit davon entfernt, ihnen zuzustimmen.
Ich will das nicht noch weiter auswalzen, sonst schweife ich immer weiter vom Thema ab.

Was ich nämlich sagen will, ist: Nur weil man sich einfühlen kann, heißt das nicht, dass man zustimmt. Nur weil man jemandes Bedürfnisse ernstnimmt, heißt das nicht, dass man sie erfüllt. Und nur weil man jemanden hört, heißt auch das nicht, dass man nach seiner Pfeife tanzt. Denn man selbst hat ja auch Bedürfnisse, und wenn diese in Mangel geraten würden, wenn man die Bedürfnisse des anderen erfüllt, dann braucht man das nicht zu tun. Und dennoch kann man den anderen aus seiner Sicht verstehen, fühlen, ernstnehmen.

Das ist ein anderes Paradigma, in dem nicht nur einer Recht haben kann, sondern alle gleichermaßen Recht haben. Beziehungsweise ist das Konzept „Recht“ in diesem Paradigma sowieso überflüssig bzw. nicht mehr zeitgemäß.

Und Lolek hat dieses Paradigma noch nicht für sich entdeckt.