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Und ich habe noch weitere Schritte, kennengelernt, die mich näher an den Himmel gebracht haben.

Am hinderlichsten ist für mich der starke Fokus auf den Bedürfnissen in der Gewaltfreien Kommunikation. In einer oberflächlichen Kommunikation ist der Blick auf die Bedürfnisse sehr hilfreich, aber in einer tiefgehenden (Selbst-)Empathiesitzung geht dieser Blick meist am Problem vorbei. Ich mache ein Beispiel:

Ich sitze im Büro, sagen wir, es ist 19 Uhr. Mein Mann kommt herein und sagt mit gerunzelter Stirn: „Du sitzt ja immer noch hier! Wann kommst du endlich?“ Ich frage: „Brauchst du Entlastung oder Gemeinschaft?“ Er: „Beides.“ Ich: „Ok. Ich komme in 10 Minuten.“

Oder im Büro:

Frau Meier ist genervt, weil ihre Kollegin Frau Müller in der Arbeitszeit ständig Rauchpausen macht oder privat telefoniert und ihr dann Fragen stellt, wie sie ihre Arbeit machen soll. Frau Meier hat dann a) weniger Zeit für ihre eigene Arbeit und b) muss sie oft die Arbeit von Frau Müller noch mitmachen. Sie könnte nach einer Selbstempathie-Runde zu ihr sagen: „Ich habe ein Problem  und würde das gerne mit Ihnen besprechen. Ich habe gesehen, dass Sie jede halbe Stunde rausgehen, um eine Zigarette zu rauchen. Außerdem habe ich beobachtet, dass Sie oft privat telefonieren – z.B. heute schon dreimal. Ich merke, dass ich darüber unruhig und irritiert werde. Und auch besorgt, ob ich Ihre Arbeit noch mitmachen muss. Ich brauche Entlastung und Kooperation. Wie kommt das bei Ihnen an?“ Und so weiter.

In solchen Zusammenhängen ist GFK wirklich Gold wert, und da ist der Fokus auf den Bedürfnissen genau das, was Verbindung herstellen kann. Der zweite Konflikt, den ich geschildert habe, wird zwar vermutlich mehrere Giraffentanzrunden erfordern, weil Frau Müller sich bestimmt trotz der giraffischen Worte angegriffen fühlen wird, aber zumindest ist hier GFK wirklich genau das, was ich auch tun würde.

Aber dann gibt es noch die Konflikte, denen tiefsitzende Glaubenssätze zu Grunde liegen, wie z.B. die Überzeugung, falsch zu sein und auch alles falsch zu machen. In meinen Übungsabenden kommen häufig sehr profunde Themen zum Vorschein, und dort erscheint es mir meist oberflächlich, auf dem Bedürfnis herumzureiten. Ich versuche lieber, den betroffenen Teilnehmer dabei zu begleiten, den tiefen Schmerz vollständig zu erfahren, denn meine Erfahrung ist, dass jedes Gefühl, das vollständig erfahren wurde, sich in Freude verwandelt. Das betroffene Bedürfnis kommt mir angesichts des starken Schmerzes immer buchstäblich blass vor – das gilt auch für meine eigenen Prozesse. Denn meist sind es die Bedürfnisse Liebe und Zugehörigkeit, die im Mangel  sind – aber wo soll denn da der Durchbruch sein, wenn ich dies feststelle? Auch bei dem Prozess „The Beauty Of The Needs“ von Gonzales stellt man sich meines Wissens vor, wie es ist, wenn die Bedürfnisse erfüllt sind. Aber der Schmerz ist dadurch ja nicht verschwunden und wird bei der nächsten Gelegenheit wieder auftauchen.

Außerdem führt Gewaltfreie Kommunikation aus meiner Sicht nur zu einer Befreiung innerhalb des Verstandes, aber nicht zu einer Befreiung vom Verstand selbst. Marshall selbst betont die spirituellen Wurzeln von GFK, und er sagt:

„Gewaltfreie Kommunikation hilft mir (…), mit dieser wunderschönen Göttlichen Energie in mir selbst in Kontakt zu bleiben und mich auch damit in Anderen zu verbinden. Und wenn ich die Göttliche Energie in mir selbst mit der in Anderen verbinde, ist das, was dann passiert, das Beste, das ich kenne, um mich mit Gott an sich zu verbinden.“

Und auch Marshall sieht die Einmischung des Egos kritisch und sagt dazu an einer Stelle:

„Ich sehe das Ego sehr dicht verknüpft damit, wie meine Kultur mich zu denken und zu kommunizieren trainiert hat, und wie die Kultur mich trainiert hat, meine Bedürfnisse in bestimmten Weisen zu erfüllen, und wie meine Bedürfnisse vermischt werden mit bestimmten Strategien, die ich benutzen muss, um diese Bedürfnisse zu erfüllen.
Und so versuche ich, bewusst zu bleiben über diese drei Wege, wie meine Kultur mich programmiert hat, Dinge zu tun, die nicht wirklich in meinem besten Interesse sind, indem ich mehr von meinem Ego aus funktioniere als aus meiner Verbindung zum Göttlichen. Ich habe versucht, Wege zu lernen, mich selbst darin zu trainieren, bewusst zu sein, immer wenn ich auf diese kulturell erlernte Weise denke, und dieses Training ist die Gewaltfreie Kommunikation.“

So wie ich Marshall verstehe, versucht er, sich seines Egos und der Konditionierungen durch seine Kultur immer bewusst zu sein und sich dabei zu beobachten, wie es aus dem Ego heraus viel schwerer ist, sich mit dem Anderen zu verbinden, als wenn er es aus der Verbindung mit dem Göttlichen tut.

Ich bin in diesem Punkt sehr bei Marshall, denn die Verbindung mit dem Göttlichen bzw. das Aufgehen im Göttlichen ist auch mir das Wichtigste. Ich habe daher in meiner Arbeit den Fokus darauf, Befreiung vom Verstand selbst zu erlangen – zunächst, indem ich (oder meine Teilnehmer) den Verstand beobachte. Der Verstand, der im Englischen Mind heißt, umfasst nicht nur die Gedanken, sondern auch Prägungen, Konditionierungen, Traumata, Karma und emotionalen Muster. Durch alle diese Programme sind wir nicht in der Lage, die Realität zu erfahren, wie sie ist, sondern wir sehen sie immer nur durch einen Filter.

Daher ist auch Schritt 1 der Gewaltfreien Kommunikation so wichtig, damit mein Gegenüber weiß, welches Bild mein Filter gerade erzeugt hat. Mein Gegenüber kann dann schildern, welches Bild sein eigener Filter im selben Moment durchließ, und so können wir die beiden Bilder miteinander vergleichen.

Die Gefühle, die wir haben (also der zweite Schritt), gehören nicht zu einem Ich, sondern zu verschiedenen Teilpersönlichkeiten. Jede Teilpersönlichkeit hat nicht nur eigene Gefühle, sondern auch eine eigene Körperhaltung, eigene Gedanken und eigene Konditionierungen. Die Teilpersönlichkeit setzt sich zusammen aus verschiedenen zusammenpassenden Erfahrungen, die sich in unserer Erinnerung befinden. Je nach Trigger im Außen treten die Teilpersönlichkeiten auf die Bühne und wieder ab.

Und natürlich hat auch jede Teilpersönlichkeit eigene Bedürfnisse. In tiefen Empathieprozessen ist fast immer eine sehr junge Teilpersönlichkeit auf der Bühne, denn fast alle tiefsitzenden Programme wurden in der frühen oder frühesten Kindheit „installiert“. Wenn ich mit einer Person arbeite, finde ich es sinnvoll, den Schmerz, die Ladung vollständig zu erfahren, denn dann kann sie gehen. Wenn der Schmerz gegangen ist, löst sich das Bedürfnis meist von selbst auf, weil sich die Perspektive einfach verändert hat.

Ein Beispiel:

Ich hatte früher den Glaubenssatz „Ich bin wertlos“. Eines Tages saß ich mit meinem Mann und einem Freund zusammen und geriet immer tiefer in den Schacht, der an diesem Glaubenssatz dran hing. Die beiden hörten mir einfach zu. Ich schnitt mir alle Fluchtwege ab und fühlte mich immer wertloser und wertloser. Und irgendwann erreichte ich den Grund, und dort war irgendwie ein Schalter, der sich plötzlich sanft umlegte. Auf einmal erkannte ich, wie absurd das alles war: ich saß da im gemütlichen Wohnzimmer mit meinem Mann, der mich liebte und dem Freund, der mich mochte, und alles war gut – all die Wertlosigkeit war nur in meinem Kopf. Und auf einmal musste ich lachen. Sie war weg.

In dieser Situation hätte es mich nicht weitergebracht, nach orthodoxer GFK-Manier festzustellen, dass ich so gerne einen Beitrag leisten will und dass ich gerne wertvoll sein will. Ich wäre mit diesem Ansatz nie an diesen tiefen Punkt gekommen. Und als ich am tiefsten Punkt angekommen war und lachen musste, war jedes Gespräch über welches Bedürfnis auch immer vollkommen überflüssig.

Mir ist wichtig, Menschen den Überblick über ihren Mind (also über ihre Programme, Prägungen etc.) zu verschaffen, damit sie ihn beobachten können, ohne einzusteigen. Wenn man sich über die Persönlichkeiten stellt, nimmt man eine beobachtende Haltung ein, und sieht dann z.B., dass da eine Teilpersönlichkeit auf der Bühne ist, die Signifikanz braucht, oder vielleicht braucht sie Zugehörigkeit, Liebe oder was auch immer. Vielleicht ist da Schmerz – und den kann man einfach körperlich erfahren. Und wenn wir den ersten Schritt der GFK kennen und anwenden können, schauen wir an, was wir im Außen wahrgenommen haben. Vielleicht können wir sogar die Konditionierung selbst sehen.

Und das bedeutet Freiheit.
Ich erlebe das immer mehr, und ich habe dadurch immer weniger Konflikt in mir. Als eine Freundin von mir eine andere Texterin auf die Team-Unterseite ihrer Website genommen hat, hatte ich z.B. einen großen Schmerz, weil mein Bedürfnis nach Signifikanz und Wertschätzung nicht erfüllt war. Ich war aber nicht ärgerlich auf meine Freundin, sondern spürte nur den Schmerz. Und ich spürte, wie der Schmerz an alte Programme andockte. Der Sachverhalt selbst war völlig neutral, aber bei mir ging die Post ab. Glücklicherweise konnte ich das mit ihr am nächsten Morgen besprechen und aufklären, und mittlerweile ist die Ladung verschwunden, obwohl der Sachverhalt immer noch besteht.

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Der Verstand eines normalen Menschen ist wie ein Esel, den man auf dem Rücken mit sich schleppt. Er legt seinen schweren Kopf auf unseren, und wir hören ihm die ganze Zeit zu. Ich strebe einen Zustand an, in dem ich auf dem Esel reite. Ihn benutzen, ohne ihm glauben zu müssen. Ihn abschalten können, wenn ich ihn nicht brauche. Denn wenn ich nicht im Verstand gefangen bin, kann ich die Welt und mein Gegenüber sehen, wie sie sind. In ihrer ganzen Schönheit. Und da will ich hin.