Sich abgrenzen lernen ist immer wieder Thema in der Gewaltfreien Kommunikation. Hannas Thema am letzten GFK-Übungsabend war ihr Konflikt mit ihrer Schwiegermutter. Hanna ist verheiratet und hat einen Sohn und eine Tochter, beide unter 10 Jahre. In den Osterferien wollen sie verreisen, und die Kinder haben vorgeschlagen, die Oma mitzunehmen. Das passt Hanna aber nicht, denn seit ihre Schwiegermutter sie vor 4 Jahren sehr verletzend behandelt hat, redet sie mir ihr nur noch das Notwendigste. Und das Schlimme ist: Diese merkt es nicht einmal.

Was war passiert? Die Schwiegermutter, die wir Margot nennen, ist emeritierte Professorin und hatte zunächst Hanna und ihren Mann gebeten, ihr Haus zu übernehmen, also dort wohnen.

Eigentlich wollte Hanna gar kein Haus, aber sie sagte es nicht. Eigentlich wollte sie gerade beginnen, ihre Doktorarbeit zu schreiben, nachdem sie das damals noch einzige Kind gerade mühevoll in einer guten und teuren Kinderbetreuung untergebracht hatte. Aber sie konnte nicht Nein sagen und übernahm das Haus. Und das bedeutete faktisch, dass sie das Haus entkernte, denn Margot war keine Freundin von Hausarbeit: Das Haus war vollkommen heruntergewirtschaftet und „stank schlimmer als auf dem Bahnhofsklo!“.

Als das zweite Kind geboren und ebenfalls in einer Kinderbetreuung untergebracht war, so dass Hanna nun wirklich endlich mit ihrer Doktorarbeit hätte beginnen können, kam Margot wieder mit einem Anliegen auf sie zu. Diesmal fragte sie sie, ob sie ihr helfen könne, eine Wohnung zu kaufen und einzurichten. Wieder gehorchte Hanna, stellte ihre Doktorarbeit hinten an – und machte fast alles alleine. Als Margots Küche geliefert werden sollte, stellte sich heraus, dass Margot an diesem Tag einen Termin hatte. Sie sagte zu Hanna: „Aber du bist ja da.“ Hanna war sehr erbost, dass ihre Schwiegermutter von ihr erwartete, dass sie ihre kostbare Zeit opferte, um ihre Küche in Empfang zu nehmen, aber nicht selbst bereit war, ihren eigenen Termin zu verschieben. Den Rest gab ihr jedoch ein Brief, den Margot ihr schrieb, und in dem sie ihr zwar einerseits dankte, in dem sie aber andererseits behauptete, Hanna habe ja sowieso keine Zeit für ihre Doktorarbeit gehabt, weil sie sich auch um ihre eigenen Eltern habe kümmern müssen, und so sei es eigentlich sehr gut gelaufen, wie es gewesen sei.

Hanna hatte ihren Ärger gegenüber Margot bisher nicht ausgedrückt, weil es in der Herkunftsfamilie ihres Mannes nicht üblich sei, über Konflikte zu sprechen. Daran hat sie sich gehalten.

Zunächst mussten wir uns einen Moment aussuchen, den wir giraffisch aufbereiten konnten. Da auf dem auslösenden Ereignis noch so viel „Saft“ war, entschied ich, dieses Ereignis aufzugreifen. Wir stellten fest, was damals eigentlich genau passiert war, also bereinigt von allen Bewertungen: Margot hatte Hanna gebeten, ihr beim Kauf einer Wohnung zu helfen, diese hatte eingewilligt, und als die Küche geliefert werden sollte, war Margot verhindert. Das war die Beobachtung im Groben.

Sodann ließen wir Hanna ihre innere Wolfsshow anschauen, um überhaupt an die Kerngefühle heranzukommen. Es fiel Hanna jedoch schwer, ihren Ärger überhaupt rauszulassen. Als ich sie ermutigte, sich vorzustellen, Margot würde vor ihr sitzen, wurde es noch schwerer, weil sie befürchtete, Margot würde das alles nonchalant an sich abperlen lassen und sie gar nicht hören. Also fuhr sie zunächst fort, ihren Ärger in der dritten Person loszuwerden. Sie war voller Hass und Verachtung dafür, dass diese Frau sich selbst zu fein gewesen sei, sich die Finger schmutzig zu machen, aber sie als ihre Schwiegertochter konnte das ja ruhig tun!

Was verbarg sich unter dem Ärger? Hanna sagte, sie sei traurig, dass sie ihre wertvolle Zeit geopfert hätte. Sie war auch enttäuscht, dass ihre Schwiegermutter sie nicht sah. Und sie war hoffnungslos und ohnmächtig, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Margot sich überhaupt herablassen würde, sich in sie einzufühlen. Sie hatte Angst, dass sie beim Versuch, das Thema zur Sprache zu bringen, noch eine Verletzung fangen würde, und dass es ihr danach noch schlechter gehen würde als jetzt.

Die betroffenen Bedürfnisse (über die wir nicht im Einzelnen sprachen) waren Gesehenwerden, Wertschätzung, Selbstbestimmung und Integrität.

Mir poppte ständig der Satz auf: „Margot, fällt dir an unserem Verhältnis in den letzten vier Jahren eigentlich was auf?“  und so entwickelte sich ein Dialog zwischen mir als Hanna und ihr als Margot, in dem ich ihr sehr zynisch (und also nicht giraffisch) entgegenschleuderte, was ich damals alles getan hätte, und wie es mir damit gegangen sei.  Margot begab sich nicht in die Niederungen meiner Emotionen, sondern blieb elegant und niveauvoll und ließ mich also abblitzen. Während ich noch unter der Wucht dieser aufgestauten Wut vibrierte, erkannte die echte Hanna, dass es ihr Bedürfnis nicht erfüllen würde, dieses Gespräch zu führen.

Sodann schauten wir, was anders wäre, wenn Margot optimal reagieren würde, also Giraffenohren aufgesetzt hätte. Ich begab mich in Margots Rolle (das nächste Mal lass‘ ich das mal jemand anderen machen!) und spürte, dass ich mich sehr schuldig fühlte, dass ich die Zeit meiner Schwiegertochter so in Anspruch genommen hatte, und dass das meinem Selbstbild so sehr widersprach, dass ich schnell ein „Deckchen drüber legen“ musste – daher hatte ich den Brief geschrieben. Es war mir unendlich peinlich und es fühlte sich unentschuldbar an. Ich hatte Angst vor Hanna. Und Hanna spürte, dass auch die optimale Reaktion von Margot ihr nicht helfen würde.

Und da erkannten wir, dass ein Giraffentanz mit Margot an dieser Stelle nichts nützen würde. Denn es geht gar nicht um Margot. Zwar hätte Margot Hanna (aus der Sicht von Hanna) gar nicht fragen dürfen, ob sie ihr helfen würde, eine Wohnung zu kaufen. Margot hätte wissen müssen, dass Hanna jetzt endlich ihre Doktorarbeit schreiben wollte, und sie hätte auch wissen müssen, dass Hanna schwer Nein sagen kann. Aus Hannas Sicht hat Margot sie ausgenutzt.

Hanna verlagert die Verantwortung, für sich zu sorgen, nach außen. Statt Nein zu sagen, hat sie Ja gesagt und sich geärgert – und hat Margot die Verantwortung dafür übertragen. Margot ist in Hannas Vorgarten getrampelt und hat alle Tulpen dem Erdboden gleich gemacht, denn Hanna hat bereitwillig das Törchen geöffnet – sofern es überhaupt eines gab. Margot sah den Vorgarten aber gar nicht. Sie stellte eine Bitte und erhielt eine positive Antwort.

Es ist Hannas Aufgabe, die Grenzen ihres Vorgartens selbst zu wahren. Zur Not muss sie sich an den Eingang stellen und sagen: „Hier beginnt mein Vorgarten. Bitte nur nach persönlicher Einladung eintreten.“ Was soll Hanna mit ihrer Wut auf Margot tun? Sie kann z.B. die Radikale Vergebung nach Colin Tipping üben oder eine andere Art von innerer Arbeit tun. Auf jeden Fall kann sie ihren Ärger nicht an Margot auslassen, denn sie hatte immer die Möglichkeit, Nein zu sagen und hat sie nicht genutzt.

Wir waren alle sehr berührt von diesem Prozess, denn jeder von uns hat einen Vorgarten, und jeder hat schon mal die Tulpen eines anderen zertrampelt.