Neulich sagte ein Gegenüber in einem Gespräch zu mir: „Was die da machen, ist aber schon Gehirnwäsche“. Doch was ist das eigentlich genau? Der Begriff geht auf den englischen Begriff ‚brainwashing‘ zurück, der während des Koreakriegs entstand und eine Übersetzung aus dem Chinesischen ist: Während der Kulturrevolution unter Mao wurden Zehntausende chinesischer Professoren und Studenten zu sogenannten „Umerziehungsprogrammen“ aufs Land geschickt. Da kommt’s also her.

Aus meiner Sicht wird der Begriff Gehirnwäsche heute sehr leichtfertig verwendet.
Kurz gesagt verbindet man mit ihm ein Täter-Opfer-Verhältnis, in dem der Täter dem Opfer überlegen ist und dessen Persönlichkeit böswillig und absichtlich manipuliert oder gar ausschaltet. Der Täter handelt aus egoistischen Motiven, und die Reflexionsfähigkeit des Opfers ist ausgeschaltet. Es weiß nicht mehr, was es tut. Er hat seine Persönlichkeit verloren.

Das Wort Gehirnwäsche wird gern von Personen benutzt, die etwas über eine Organisation sagen, die sie nicht kennen und der sie nicht angehören. Sie benutzen diesen Begriff, um sich von der Organisation (z.B. Sekte, politische Partei, Persönlichkeitsentwicklungsfirmen) deutlich abzugrenzen, und immer ist damit auch eine moralische bzw. ethische Abwertung verbunden.

Ich (im Sinne von „man“) stehe im Zentrum meiner Welt.
Ich bin normal (ich empfehle hierzu auch den Artikel über Normalität), und alles, was mit mir nicht übereinstimmt, ist unnormal.
Alles, was ich nicht verstehe, ist unnormal.
Wenn etwas mit meinem Weltbild nicht übereinstimmt, ist es komisch und unnormal.
Wenn jemand, den ich kenne, sich in einer Weise verändert, die ich nicht mehr nachvollziehen kann und die mir vielleicht Angst macht, so dass ich mich mit dieser Person nicht mehr verbunden fühlen kann, und wenn diese Veränderung auf die Zugehörigkeit in einer bestimmten Gruppe zurückzuführen ist, dann wurde er einer Gehirnwäsche unterzogen. Und dann muss ich ihn retten – und die Organisation angreifen.

Das passiert z.B., wenn in einer Beziehung einer von beiden plötzlich Persönlichkeitsentwicklungskurse macht – und der Andere nicht. Der, der die Kurse besucht, spricht vielleicht plötzlich anders, benutzt Fachtermini, die der Andere nicht versteht, fokussiert sich auf andere Themen usw. Und zack – schon drängt sich dem Anderen der Verdacht auf, er werde einer Gehirnwäsche unterzogen.

Gehirnwäsche ist nicht klar definiert – nicht wie z.B. Diebstahl. Diebstahl ist eine klar definierte Handlung: man bricht fremden Gewahrsams an einer Sache und begründet neuen Gewahrsam an der Sache mit der Absicht, sich oder einem Anderen die Sache rechtswidrig zuzueignen. Diebstahl hat überwiegend objektive Parameter.

Gehirnwäsche hingegen ist schon in sich selbst ein negatives Urteil – eine positive Gehirnwäsche gibt es ja nicht. Sie basiert auf vielfältigen Vermutungen: Ist der Täter wirklich böswillig und egoistisch? Woher will ich das eigentlich wissen? Ich nehme irgendetwas etwas wahr – und ich interpretiere die Wahrnehmung aufgrund meiner eigenen Erfahrungen. Aber vielleicht fehlt mir ja einfach der Überblick?
Ist der Täter dem Opfer wirklich überlegen? Woran erkenne ich das? Ist die Reflexionsfähigkeit des Opfers wirklich ausgeschaltet oder überlistet? Woran mache ich das fest? Sehe ich das daran, dass das Opfer meinen „vernünftigen Argumenten“ nicht zuhört? Woher will ich wissen, dass meine Argumente wirklich vernünftig sind? Vielleicht habe ich einfach eine beschränkte Sichtweise?
Und woran würde ich im Außen erkennen, dass die Reflexionsfähigkeit des Opfers wieder hergestellt ist? Vielleicht daran, dass das Opfer wieder seinen „gesunden Menschenverstand“ eingeschaltet hat und mir glaubt? Aber wer legt eigentlich fest, welcher Menschenverstand gesund ist?

Ich (wieder im Sinne von man) wähle mir immer selbst den Bezugsrahmen für meine Wahrnehmungen. Ich entscheide, wo ich 1+1 zusammenzähle. Ich sehe, ich interpretiere und ich ziehe Schlüsse – und manchmal verbinde ich Fakten miteinander, die aus Sicht einer anderen Person nichts miteinander zu tun haben. Ich vermute vielleicht Kausalzusammenhänge, die gar nicht bestehen – und verkaufe sie als Tatsachen.

Übrigens – zum Thema „Persönlichkeit verlieren“:
Da ja jeder verschiedene Persönlichkeitsanteile hat (meine neunjährige Tochter hat bei zwölf Anteilen zu zählen aufgehört), die sich im Laufe des Lebens verändern, weiterentwickeln, vermehren und/oder reduzieren können, kann man auch nicht sagen, welche Persönlichkeit eigentlich verloren ist, wenn denn eine Gehirnwäsche stattgefunden hat.

Ich will bewusst keine Lösung anbieten, denn auch ich habe ja nicht den ultimativen Überblick. Ich will anregen, dass wir mit offenem Herzen und Demut hinterfragen, ob wir wirklich sicher sein können, dass eine Sache ist, wie wir sie sehen. Vielleicht kann man eine Situation ja auch ganz anders beurteilen?

Aber noch was: Was ist eigentlich mit den Medien? Fernsehen, Radio, Zeitungen usw.? Dass Göbbels im Dritten Reich mittels Medien Gehirnwäsche betrieben und die Meinung der Gesellschaft sehr schlau manipuliert hat, wird sicher kaum jemand ernsthaft abstreiten. Damals war es einfach nur Zeitgeist…

Wie ist es mit dem Zeitgeist in den Medien heute? Wenn es Gehirnwäsche gibt, dann gibt es sie auch im Fernsehen, wo auf immer mehr Kanälen immer weniger Inhalt angeboten wird. Wir werden unter-halten. Wenn wir fernsehen, sind wir leicht lenkbar. Das geht ganz ohne Zwang und bei scheinbarer Freiheit und Vielfalt. Man fühlt sich informiert und gebildet, wenn man Zeitung liest und fernsieht – und blendet dabei aus, dass uns ja nur die Meinung bestimmter Redakteure serviert wird.

Aber zu diesem Thema habe ich ja bereits einen Artikel geschrieben.
Ich gehe jetzt mal schlafen.