Die Wohnung versank im Chaos, ich wollte noch einige dringende Emails schreiben und hatte total schlechte Laune. Ich brauchte ein sauberes Haus, Entlastung und Frieden. Ich wollte in Ruhe putzen, aber diese Ruhe war leider Lichtjahre entfernt, denn meine Töchter (damals gerade 6 Jahre alt geworden) stritten. Und zwar leidenschaftlich und ausdauernd – wer Skorpione kennt, weiß, wovon ich rede. Zum Glück hatte ich meine Mediationsausbildung gerade begonnen und nutzte widerwillig erfreut die Gelegenheit zum Üben.

Worüber also stritten meine Kinder erbittert und verzweifelt? Über ein rotes Playmobil-Baby. Zur Erläuterung des Sachverhalts: wir besaßen seinerzeit drei Playmobilbabys (im Laufe der Jahre wurde der Bestand immer weiter erhöht), zwei davon waren gelb und hatten recht glatte Haare, eines war rot und hatte – wie ich seit diesem Tag unterscheiden konnte – eine wellige Außenrolle und war daher ein Mädchen. Ich fand das Vorhandensein einer welligen Außenrolle übrigens vollkommen irrelevant für die Bestimmung des Geschlechts des Babys. Haben Knaben etwa nie Locken? Aber ich hatte eben keine Ahnung. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben rauschen an einem durchschnittlichen Erwachsenen vollkommen vorbei.

Ich kam dazu, als Luise Annette (Namen geändert) vorgeschlagen hatte, sie könnten sich das Baby teilen: jeder könne es für zwei Tage behalten. Doch Annette war damit erkennbar nicht einverstanden: sie weinte, trampelte mit den Füßen auf den Boden und war vollkommen außer sich. Zunächst musste der Sachverhalt geklärt und der Streitgegenstand gesichert werden.

Bereits die treuhänderische Verwahrung durch mich weckte große Sorge bei den Konfliktparteien, aber ich setzte mich in diesem Punkt durch, denn sonst wäre die Allparteilichkeit nicht mehr gewahrt gewesen, und die Mediation hätte durch Tätlichkeiten unterbrochen werden können.

Ich hörte beide Seiten an und wandte mich dabei zuerst Annette zu, weil diese so aufgelöst erschien: „Du bist also der Meinung, es sei dein Baby. Wieso denkst du das?“ Das war eine recht konfrontierende Frage, die ich bei Erwachsenen anders formulieren würde, aber die „giraffischere“ Variante („Aus welcher Beobachtung leitest du ab, dass das Baby dir gehört?“) hätte Annette vermutlich nicht verstanden.

Sie antwortete: „Weil es in meiner Hose war.“ „Ok, und du findest, wenn es in deiner Hose ist, gehört es dir auch, und jetzt hast du Angst, dass du es nicht behalten darfst?“ Sich beruhigend: „Ja.“ Luise wollte dazwischen gehen und auch etwas erklären, aber ich bat sie, sich zu gedulden, indem ich ihr mitteilte, dass ich auch ihr noch genauso zuhören würde. Zu Annette: „Und ist es dir total wichtig, dass du mit dem Baby spielen kannst, wann du willst?“ „Ja!“

So ging es noch eine Weile hin und her, und ich spiegelte ihr immer wieder ihre Gefühle (ihre Angst, ihre Verzweiflung, ihr Hilflosigkeit) und ihre Bedürfnisse (selbst bestimmen, gehört werden, Gleichwertigkeit). Sie beruhigte sich zwar, aber nicht genug, um „vernünftig über alles zu reden“.

Hintergrundinformation: Von der besagten Hose hatten wir zwei, und sie waren keinem Eigentümer speziell zugeordnet. Die Tatsache, dass das Baby in der Hose war, deutet im Übrigen eher darauf hin, dass Luise es hinein getan hatte, denn es war eine von Luises Angewohnheiten, kleine Dinge in Hosentaschen mit sich zu tragen.

Dieses Wissen belastete meine Unvoreingenommenheit, und hinzu kam, dass ich wusste, dass wir ehemals noch ein grünes Baby gehabt hatten, welches Luise gehört hatte und seit geraumer Zeit verschollen gewesen war, und dass ich weiter wusste, dass Annette das ihr gehörende rote Baby irgendwann mal an Luise verschenkt hatte. Dass die wellige Außenrolle neuerdings überhaupt thematisiert wurde, lag vermutlich daran, dass erst die beiden damals neuen, gelben Babys über keine solche Außenrolle verfügten, und man also erst seit kurzem überhaupt einen Unterschied in der Haartracht von Babys feststellen konnte.

Ich wandte mich Luise zu, und es kam eine weitere Komplikation hinzu: Luise hatte die Vermutung, das Baby gehöre einer gemeinsamen Freundin, Sabine, und Annette habe es dieser geklaut. Annette bestritt dies heftig und teilte mit, Sabine habe gar kein solches Baby. Da Annette nach meiner Erfahrung nicht stahl, folgte ich ihrem Vortrag. Doch der Sachverhalt blieb zunächst unklar.

Die Juristin in mir kam zu folgendem Schluss (natürlich teilte ich diesen den Konfliktparteien nicht mit): da Annette ihrer Schwester das Baby seinerzeit geschenkt hatte, war Luise Eigentümerin und hatte somit ein Recht zum Besitz. Wenn sie Annette ein alternierendes zweitägiges Nutzungsrecht einräumte, sollte Annette dies erfreut akzeptieren. In manchen Momenten juckte es mich aufgrund dieser simplen juristischen Lösung, einfach ein mütterliches Machtwort zu sprechen. Doch ich hielt mich zurück.

Da Juristerei mit Mediation wenig zu tun hat und die Bedürfnisse meiner Kinder nicht erfüllen würde (oder höchstens von einem Kind), fuhr ich in meiner Vermittlungstätigkeit fort. Leider erinnere ich nicht mehr den gesamten Verlauf, weil er nicht immer linear verlief und manchmal in einen Tumult ausartete.

Alle fünf Minuten musste ich mich entscheiden, meine Ungeduld und meine juristische Vorbildung ins Regal zu stellen, denn immer wieder rissen sie (also die Ungeduld und die Vorbildung) mich zu voreiligen Schlüssen und Vorschlägen hin. So gut ich konnte spiegelte ich die Gefühle und Bedürfnisse beider Kinder, und manchmal, wenn mir der Geduldsfaden wieder riss, stieß ich wütende Drohungen aus („Ich spüle das blöde Baby gleich ins Klo, dann ist Ruhe!“). Beide brachen dann in Tränen aus, und ich machte mir furchtbare Vorwürfe für meine Grausamkeit.

Einmal schlug ich vor, ich würde ein zweites Baby kaufen, aber Luise wollte sich darauf nur einlassen (und Annette das vorhandene sofort überlassen), wenn ich es am selben Tag noch kaufte. Das wollte ich aber nicht, und so war das auch keine Lösung.

Die Fronten blieben verhärtet: Annette räumte zwar ein, sie habe Luise ein rotes Baby geschenkt, aber sie bestritt, dass es mit dem in der Hose vorgefundenen identisch war. Sie war bereit, es Annette für zwei Tage zu leihen. Luise hingegen war bereit, sich mit Annette das Baby zu teilen. Das war für Annette hingegen unannehmbar, weil sie ihre behaupteten Eigentumsrechte nicht aufgeben wollte.

Irgendwann lenkte Annette ein, Luise könne das Baby für zwei Tage haben (oder es sich mit ihr teilen, das weiß ich jetzt nicht mehr), wenn sie an meinem Notebook ein Spiel spielen dürfe. Zähneknirschend willigte ich ein, weil ich endlich diesen Konflikt beenden wollte. Natürlich blieb es nicht bei einem Spiel, sondern wir suchten mehrere Seiten auf, und Luise wollte dann auch noch etwas spielen, so dass wir eine halbe Stunde bei Internetspielchen zubrachten.

Aber zumindest waren meine Kinder dann wieder versöhnt. Und das war die Hauptsache. Denn es geht ja nie ums Rechthaben. Es geht darum, dass beide Seiten zufrieden sind.
(Nachtrag: Das Playmobil-Baby hatte ich so gut verwahrt, dass wir es bis heute nicht mehr wieder gefunden haben.)