Schuld ist ein großes Thema.

Und vermutlich ist es viel zu groß für einen Blogartikel. Und doch habe ich ständig den Impuls, darüber zu schreiben, denn immer wieder stoße ich mich an der Formulierung, dass jemand an etwas schuld sei. Nähern wir uns dem Thema zunächst so emotionsfrei wie möglich. Wie wird der Schuldbegriff im Rechtssystem verwendet?

Schuld – erstmal juristisch betrachtet

Im deutschen Rechtssystem taucht der Wortstamm Schuld an mehreren Stellen auf, ist aber – im Gegensatz zum amerikanischen System – nach meiner Erfahrung erfreulich wenig emotional aufgeladen.

Im Zivilrecht gibt es z.B. den Schuldner; das ist derjenige, der eine Leistung erbringen muss. Ihm gegenüber steht der Gläubiger, der einen Anspruch auf die Leistung hat. Die überwiegende Zahl von Verträgen ist gegenseitig: beide Seiten schulden etwas, die eine Seite die Sachleistung, die andere das Geld. Wenn eine Seite nicht leistet, dann kann man sie verklagen, und dann stellt der Richter fest, ob sie tatsächlich leisten muss. Und wenn sie sehr viel leisten muss, dann hat sie Schulden. Wenn es zu viele werden, kann man Privatinsolvenz anmelden und wird nach sechs Jahren von der Restschuld befreit.

Weiter gibt es das Verschulden, was die Verantwortlichkeit einer Person für z.B. die Verschlechterung oder den Untergang einer Sache regelt. Wenn jemand etwas verschuldet hat, also für einen Schaden verantwortlich ist, muss er diesen erstatten. Auch das regelt das Gericht, falls die Parteien sich nicht einigen, und auch hier ist wenig Emotion verstrickt (zumindest nach meinem Verständnis).

Im Strafrecht dann gibt es dann die Schuld bzw. schuldhaftes Handeln. Der Handelnde hat auf jeden Fall den objektiven Tatbestand einer Strafvorschrift erfüllt. Um seine Schuld zu ermitteln, geht es um sein Unrechtsbewusstsein: War es dem Täter möglich, bei zumutbarem Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen eine Einsicht in das Unrecht der Tat zu haben? Man prüft aber immer auch das Fehlen von Entschuldigungsgründen: Wenn nämlich der Täter aus Verwirrung, Angst oder Schreck handelte, könnte seine Tat entschuldbar sein, oder die Schuld könnte dann zumindest geringer ausfallen, als wenn er im Tatzeitpunkt völlig ruhig und besonnen war.

Im Recht kann ich mit dem Schuldbegriff gut leben. Ich mag es z.B., wenn formuliert wird, jemandem könne sein Verhalten zugerechnet werden, weil es bedeutet, dass er kognitiv in der Lage war, die Folgen seines Handelns abzusehen. Eine solche Beschreibung ist so sachlich, dass sie von einem Vulkanier stammen könnte, und genau das gefällt mir daran.

Das Schuld-Konzept ist ansonsten völlig unnötig. Es geht auch ohne.

Mit dem Begriff Schuld ist Empörung, Entrüstung und vor allem moralische Verurteilung verbunden. Im Schuldkonzept gibt es zwei Seiten: eine mit Schuld, eine ohne. Die Seite ohne Schuld ist gut und steht oben, die andere ist schlecht und steht unten.

Der Schuldige soll sich schlecht fühlen, und das tut er auch meist, und zwar nicht nur in Bezug auf sein Handeln, sondern auf seine ganze Person. Es heißt ja schließlich „Du bist schuld“ und nicht „Du hast schuldhaft gehandelt“, und eine Aussage mit dem Verb sein ist immer statisch. Man ist also immer im Ganzen schuld – und damit gleichzeitig vollumfänglich wertlos und schlecht.

Mit der Aussage „Du bist schuld“ werden zwei Zwecke verfolgt:
1. „Ich bin nicht schuld, sondern du“. Damit hat der Schuldige die Arschkarte und man selbst ist entlastet.
2. „Sieh‘ dein Unrecht ein und bereue und bessere dich.“ Besonders dieser Zweck wird mit Schuld aber nicht erreicht. Lesen Sie weiter, um zu erfahren, warum nicht.

Das Konzept Schuld hat nur Nachteile:

1.  Durch die Feststellung, wer schuld ist, wird eine Handlung und oft auch die Person selbst abgestempelt. Anders als im Rechtssystem wird die Handlung nicht mehr genauer untersucht, weil man das Wesentliche ja schon weiß: nämlich, wer schuld ist.

2. Wenn zwei Seiten darüber streiten, wer an etwas schuld ist, dann sind sie so mit der Schuld an sich beschäftigt, dass sie sich dem zu lösenden Problem selbst gar nicht mehr zuwenden können.
Die Schuld ist wie ein stinkender Ball, den sie einander hektisch zuwerfen, weil ihn jeder so schnell wie möglich wieder loswerden will. Durch die emotionale Ladung, die dem Schuldkonzept innewohnt, fällt es ihnen schwer, in der Sache festzustellen, was genau zu dem Schaden beigetragen hat, wie man ihn hätte vermeiden können, und wie er kompensiert werden könnte.

3. Wenn wirklich eine von beiden Seiten für den Schaden verantwortlich ist, kann sie gar nicht richtig trauern und bedauern, weil sie schon an der Schuld so schwer zu tragen hat. Es könnte ja sein, dass die Schuld noch schwerer wiegt, wenn man sich zusätzlich auch noch in die Schuhe desjenigen stellt, dem man geschadet hat und seinen Schmerz fühlt. Außerdem könnte der Geschädigte das ausnutzen, noch mehr Oberwasser zu bekommen!

Dabei hat der Geschädigte viel mehr davon, wenn der „Schuldige“ wirklich sein Tun bedauert, als wenn er sich nur schuldig fühlt. Wenn man einen Fehler einräumt und dem Geschädigten Mitgefühl geben kann für das, was er erlitten hat, kann der Schmerz des Geschädigten viel besser heilen, als wenn nur die Schuldfrage geklärt ist. Denn Schuldig-Sein ist schon Strafe genug. Aber bedauern kann man nur, wenn man nicht auch noch das unnötige Schuld-Joch tragen muss.

Ich lehne das Schuld-Konzept ab, weil es niemandem nützt, sondern allen nur schadet. Es dient nur unserem Ego, sich besser zu fühlen – und auch das funktioniert nur für kurze Zeit. Aber schauen wir uns das mal genauer an: Warum verteilt man Schuld? Was haben wir davon, wenn wir jemandem die Schuld geben?

Beispiel: Manfred und Frauke fahren mit dem Auto zu einer Sehenswürdigkeit. Diese ist geöffnet bis 18 Uhr. Einen Stadtplan haben sie leider nicht. An einer Weggabelung sagt Frauke: „Wir müssen nach links“. Manfred wendet ein, dass er glaubt, rechts sei richtiger, aber Frauke ist sich ganz sicher, also fährt Manfred nach links. Nach einer Weile stellt sich heraus, dass links falsch war. Als sie zurückfahren, kommen sie leider zu spät an der Sehenswürdigkeit an, und sie hat schon geschlossen.

Fakt ist, dass Fraukes Entscheidung, nach links zu fahren, kausal war für das Zuspätkommen. Sie trägt also – wenn man so will – die Verantwortung dafür, dass sie die Sehenswürdigkeit nicht mehr anschauen konnten. Aber welchen Nutzen hat Manfred davon, Frauke die Schuld zu geben, sie also ins Unrecht zu setzen? Er hat nur einen einzigen Grund: Er hat dann Recht. Und er hat das Recht, sich zu ärgern. Aber was bringt ihm das? Wird sein Tag dadurch schöner? Die Sehenswürdigkeit hat immer noch geschlossen, und zu der Frustration, dass man sie nicht anschauen kann, sattelt Manfred sich noch Ärger obendrauf. Und die Verbindung zu Frauke ist ebenfalls gestört.

Und wie geht es Frauke? Sie fühlt sich entweder schlecht, weil sie einsieht, dass sie kausal für die Irrfahrt war, oder sie ist sauer, weil sie diese Verantwortung nicht auf sich nehmen will. Im letzteren Fall versucht sie wahrscheinlich, sie (die Schuld) Manfred doch noch anzuhängen: „Du saßest doch am Steuer! Du hättest ja einfach rechts fahren können, wenn du dir so sicher warst!“ Darauf könnte Manfred dann zurückblaffen: „Dich hätt‘ ich hör‘n wollen, wenn ich mich dir einfach widersetzt hätte! Die ganze Fahrt über hättste mich angekeift!“

Wie auch immer die Situation sich entwickelt hätte, Streit oder Scham, auf jeden Fall fühlt sich keiner von beiden wohl. Und all das nur, weil jemand die Schuld ins Spiel gebracht hat.

Viel sinnvoller wäre es in der Beispielsituation, erstmal die Frustration und Trauer zu spüren. Dann könnte man überlegen, wie man den Tag noch nutzen kann, wann die Sehenswürdigkeit wieder geöffnet hat, und wie man mit künftigen Situationen verfahren soll, wenn man sich nicht einig ist, in welche Richtung man fahren muss usw.

Die graue Eminenz in unserem Bauch: das Schuldgefühl

Das schlimmste Erlebnis, an das ich mich im Zusammenhang mit Schuldgefühlen erinnern kann, hatte ich als Anwältin, und zwar zu einer Zeit, als ich gar keine streitigen Akten mehr hatte. In einer einvernehmlichen Scheidung hatte ich beim Versorgungsausgleich einen schweren Fehler begangen, wegen dem die schon lange getrennten Parteien den Scheidungsantrag im Gerichtstermin (!) nochmal zurückziehen mussten. Sie mussten einen Ehevertrag abschließen, nochmal ein Jahr warten und dann konnten sich erst scheiden lassen.

Und das war tatsächlich und objektiv allein mein Fehler. Ich hätte ihn nicht vermeiden können, denn ich hatte einfach zu wenig Ahnung von Familienrecht. Es war vollständig meine Verantwortung, und ich schämte mich auch (Schuld und Scham kommen fast immer zusammen). Ich fühlte mich klein, schwarz und vollständig wertlos. Ich war ganz und gar ausgefüllt von diesem dunkelgrauen Gefühl, hatte keine Kraft mehr und konnte kaum mehr richtig Auto fahren. Nach diesem Erlebnis habe ich komplett aufgehört, als Anwältin zu arbeiten, denn ich kam mir vor wie ein wandelndes Sicherheitsrisiko. Ich wollte nicht mehr so viel Verantwortung tragen.

„Du bist schuld, dass es mir schlecht geht!“

Bei jemand anderem Schuldgefühle zu induzieren ist ein Klassiker in vielen Beziehungen, gleichgültig, ob zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern oder Kollegen.

Beispiel: Martha ist die Mutter von Tina und hat Geburtstag. Tina ruft Martha an, um zu gratulieren, aber Tinas Töchter Tessa und Tamara sind verreist und denken deshalb nicht dran. Beim nächsten Telefonat zwischen Tina und Martha bringt letztere das zur Sprache: „Ich hab ja gedacht, die Kinder würden sich an meinem Geburtstag mal melden. Die haben mich wohl vergessen. Da war ich ganz schön traurig, vor allem, weil ich ja auch immer anrufe, wenn jemand Geburtstag hat.“

Wenn Tina gut dressiert wäre, würde sie sich sofort schlecht fühlen und sich fragen, ob sie als Mutter vielleicht versagt hat. Sagen würde sie z.B.: „Oh, Mensch, das ist ja blöd! Das tut mir echt leid! Ich hätte sie wahrscheinlich daran erinnern sollen! Ich werde ihnen nachher mal den Kopf waschen und ihnen sagen, dass sie das noch nachholen sollen, nach allem, was du für sie getan hast.“

Und dann würde Tina zu ihren Kindern gehen und die Schuldgefühle weitergeben: Dass ihre Kinder ja auch während ihrer Reise ruhig mal hätten an die Oma denken können, und dass die Oma ja schon so viel für sie getan habe, und nun sei sie von ihren Enkeln noch nicht mal am Geburtstag angerufen worden, eine Schande ist das! Die Kinder würden sich dann schuldig fühlen und die Oma anrufen, sich entschuldigen und ihr nachträglich gratulieren. Diese wäre zwar befriedigt, weil ihr Ego gestreichelt worden wäre. Aber die Freude wäre nicht so richtig groß, denn ein Geschenk oder eine Gratulation aufgrund einer Verpflichtung zu erhalten, hat immer einen schalen Nachgeschmack. Es ist mehr wie ein Vertrag.

Tessa und Tamara sind auch nicht schuld, dass Martha traurig ist. Dass Martha traurig und enttäuscht ist, liegt an ihren eigenen Erwartungen und Vorstellungen. Sie ist in der Tradition groß geworden, dass man am Geburtstag anrufen muss, und sie hält sich selbst auch brav daran. In ihrer Welt ist sie daher in Vorleistung gegangen und erwartet jetzt die Gegenleistung.
In Tessas und Tamaras Welt hingegen gibt es keine solche Tradition. Ihnen passiert es oft genug, dass sie Kinder zu ihren Geburtstagen einladen, von diesen aber nicht zu deren Geburtstagen eingeladen werden. Die Gratulations- bzw. Geschenkleistung bleibt einseitig, es gibt also keine Gegenleistung, und daher gibt es in ihrer Welt auch keine Verpflichtung, jemanden anzurufen.

Auch in der Welt von Tessas und Tamaras anderer Oma gibt es keine Schuld, wenn jemand nicht gratuliert: Diese hängt nach dem dritten Gratulations-Anruf sogar das Telefon aus, weil sie ganz nervös wird, wenn ständig das Telefon klingelt.

Was können Tessa und Tamara tun, um nicht die Schuldkarte zu haben? Einfach nicht nehmen. Ist natürlich nicht so einfach.

Das Schuld-Ärger-Spiel: „Ich bin lieber sauer als schuld.“

Mit Schuld kann man auch Pingpong spielen: Man spielt dabei mit mehreren Bällen, nämlich dem Schuldgefühl und dem Ärger darüber. Ziel des Spiels ist es, selbst als Märtyrer dazustehen und den Anderen ins Unrecht zu setzen.

Beispiel: Martha ist einige Tage bei Tina zu Besuch und will sich nützlich machen. Sie wäscht daher die 60-Grad-Wäsche, darunter auch einen teuren Schlafanzug, den man nur bei 40 Grad waschen soll. Tina sieht den aufgehängten Schlafanzug und sagt: „Mama, den hättest du nicht waschen dürfen; es steht extra drin, dass man ihn nur bei 40 Grad waschen darf! Wasch doch lieber nichts, das brauchst du doch nicht!“

Martha fühlt sich schuldig, ist aber gleichzeitig sauer, dass Tina nicht dankbar ist für die gewaschene Wäsche, sondern sich im Gegenteil wegen eines Schlafanzuges so anstellt. Sie sagt mit einem leichten Anflug von Märtyertum: „Oh, das tut mir leid, wenn er jetzt eingelaufen ist, sag mir, was er gekostet hat, ich geb‘ dir das Geld.“

Tina merkt, dass sich Martha schuldig fühlt und den Schuldball an sie abspielen will. Tina ist ärgerlich, weil sie Martha nicht gebeten hatte, die Wäsche zu waschen, aber sie schämt sich gleichzeitig, weil sie merkt, dass Martha Dankbarkeit erwartet und sie sie ihr nicht gibt. Sie fühlt sich schuldig, dass sie so ein Fass wegen des Schlafanzuges aufgemacht hat, sie denkt, sie sei undankbar und vielleicht wirklich zu pingelig.
Und daneben ist sie sauer, weil Martha ihr das Geld angeboten hat, von dem sie den Eindruck hat, dass es eine Falle ist: Sie kann es nicht nehmen, ohne wie ein unsympathischer Korinthenkacker dazustehen. Um den Schuldball wieder zurückzuspielen, sagt sie: „Nein, Mama, natürlich musst du den Schlafanzug nicht bezahlen! Es ist Thorstens Lieblingsschlafanzug, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe, aber er kann ihn auch so noch anziehen.“

Die Dauer des Spiels hängt von der Kreativität der Beteiligten sind, immer neue Argumente zu finden, warum man selbst der Märtyrer ist und nicht der Andere.
Wenn man mit diesem Spiel aufgewachsen ist, gibt es kaum ein Entrinnen: Auf den entsprechenden Märtyrer-Tonfall springt man sofort an, fängt den Schuldball und kann dann nur versuchen, ihn wieder loszuwerden, indem man ihn zurück spielt. Wenn einem dies nicht gelingt, kann man wunderbar manipuliert werden, auch wenn der Andere das meist unbewusst tut. Und die Spielregeln gibt man an die nächste Generation weiter. Man spielt einfach bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Märtyrer, um Menschen zu manipulieren.
Ein Scheißspiel.

Du stehst in meiner Schuld.

Schuld ist ein menschliches Konstrukt ist, das es eigentlich nicht gibt. Was äußerlich passiert ist, ist z.B. ein starker finanzieller Schaden oder vielleicht eine Querschnittslähmung.
Auf der Seite des Geschädigten bleiben wenig Handlungsalternativen: Man muss mit dem Verlust klarkommen bzw. mit dem körperlichen Schaden irgendwie umgehen. Wenn man emotionale Schmerzen hat, muss man diese fühlen.
Auf der Seite des Schädigers kann der Schaden beseitigt bzw. durch Geldleistung kompensiert werden, und der Schädiger kann außerdem bedauern und um Verzeihung bitten.

Der Querschnittsgelähmte kann den Schädiger hassen, ihn verteufeln, aber dadurch geht es ihm nicht wirklich besser. Eigentlich geht es ihm schlechter, denn zusätzlich zu seinem schlechten Gesundheitszustand ist er nun auch noch von Hass zerfressen. Und er bindet sich energetisch an den Schädiger, behält ihn ständig in seinem Geist. Er bestraft damit zwei Personen: den Schädiger und sich selbst.

Wenn mir jemand etwas angetan hat, und ich ihn in der Schuld halte (das „ich“ ist hier literarisch gemeint, nicht persönlich), obwohl er um Verzeihung gebeten und sein Bedauern ausgedrückt hat, dann habe ich daraus meist einen Vorteil. Es kann sein, dass ich mein Ego damit aufwerte, oder ich möchte mir einen Trumpf im Ärmel behalten für den Fall, dass ich ihn mal brauche. Es ist eine grimmige Genugtuung, mit der ich diesen Trumpf im Ärmel spüre. Ich fühle mich moralisch besser als der Andere, und ich genieße das. Er soll möglichst zu Kreuze kriechen – etwa, weil mir früher irgendwann einmal bitter Unrecht geschehen ist und ich diese Schuldverstrickung als eine Art Rache benutze. Verbindung zu meinem „Schuldiger“ habe ich zwar nicht, aber das merke ich nicht, weil mein Herz sowieso nicht offen ist.

Eigentlich brauche ich in solchen Situationen ganz viel Empathie, und zwar nicht nur für die Situation, wegen der ich den „Schuldigen“ im Unrecht belasse, sondern vielleicht auch für vorangegangene Situationen, in denen ich nicht das bekommen habe, was ich gebraucht hätte. Ich bin total im Mangel, vielleicht habe ich schon in meiner frühesten Kindheit Schlimmes erlebt, was nie geheilt ist, aber ich fühle den Schmerz nicht mehr, weil ich ihn so erfolgreich gedeckelt habe. Was bleibt, ist die grimmige Genugtuung, es jemandem heimzuzahlen – das ist nicht so gut wie echte Freude, aber vielleicht das Schönste, das ich noch empfinden kann.

Auch bei Kapitalverbrechen gilt: Empathie ist besser als Schuld.

Wenn jemand ein wirklich schweres Verbrechen begangen hat wie z.B. ein Sexualdelikt mit Kindern, sind wir so empört und entsetzt, dass wir den Täter meist nur noch so hart wie möglich bestrafen wollen. Manche Menschen bedauern in solchen Fällen sogar, dass die Folter offiziell abgeschafft ist. Doch Abwertung und Stigmatisierung bewirkt bei einem solchen Täter nicht, dass er wirklich die Ausmaße seiner Tat erkennt. Dies geht nur mit Empathie.

Marshall Rosenberg, der Erfinder der Gewaltfreien Kommunikation arbeitete häufig in Gefängnissen. In Schweden werden Sexualstraftäter in extra Gefängnissen untergebracht, weil sie in normalen Gefängnissen aus nachvollziehbaren Gründen ganz unten in der Hackordnung stehen würden. Wenn er diese Männer fragt: „Warum haben Sie das getan, ich bin sicher, es gibt einen guten Grund dafür?“, fragen sie zurück: „Wollen sie mich verarschen oder was?“ Er führt aus: „Ich meine, dass du es nicht getan hättest, wenn es nicht deine Bedürfnisse erfüllt hätte. So wie jeder Mensch Dinge tut, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Deshalb möchte ich, dass du dir über deine Bedürfnisse bewusst wirst, denn ich bin sicher, dass wir dann andere Wege finden können, diese Bedürfnisse zu erfüllen, Wege, die effektiver sind und einen weniger hohen Preis haben.“ Er wird dann gefragt, ob er damit sagen wolle, dass es ok sei, was der Täter getan habe, und natürlich verneint er das. Aber bei allem, was Menschen tun, geht es um die Erfüllung von Bedürfnissen.

Aber solche Männer haben meist natürlich kein Bedürfnisvokabular, sondern sind es gewohnt, sich als Abschaum zu definieren, ihr ganzes Denken hat nur über Abwertung funktioniert. Wenn der Täter sich aber über seine eigenen Bedürfnisse klar geworden ist, kann man mit ihm zum Opfer schwenken: Welche Bedürfnisse wurden beim Opfer verletzt, als er es sexuell missbrauchte? Diese Art hinzuschauen ist sehr effektiv, denn vielleicht fühlt sich der Täter zum ersten Mal in seinem Leben in jemanden ein und fühlt, wie es für sein Opfer war, vergewaltigt zu werden. Manche Täter wurden als Kinder selbst sexuell missbraucht und erinnern sich auf diese Weise wieder, wie das war, und merken, dass sie die Kette der Gewalt am Leben halten, wenn sie nicht damit aufhören.

Mit Empathie meine ich also nicht nur Verständnis für den Täter, sondern auch ein tiefes Verständnis vom Täter für das Opfer. Der Schuldstempel kann nie eine so tiefgreifende Transformation herbeiführen.
Täter, mit denen Marshall Rosenberg gearbeitet hat,  haben eine wesentlich niedrigere Rückfallquote.

Vor kurzem las ich von einem Fall, in dem ein Gymnasiallehrer aus Rendsburg verhaftet wurde, weil er im Rahmen einer USA-Reise als Special Offer ein Mädchen im Alter von 6-8 Jahren für sich gebucht hatte. Ich war nicht nur entsetzt über diesen Lehrer, sondern gleichermaßen über die Agentur, die solche Dienstleistungen anbietet. Natürlich ist dieses Verhalten juristisch höchst schuldhaft, und ich verurteile es auch moralisch, aber auf der anderen Seite bin ich auch neugierig, wie jemand so taub gegenüber dem Schmerz eines kleinen Mädchens sein kann. Entweder müssen das gefühllose Monster sein (gibts auch, ist aber selten), oder ihre Menschlichkeit wurde durch extrem traumatische eigene Erlebnisse abgespalten. Ich würde sowohl den Lehrer als auch die Agentur gerne mal einer Behandlung unterziehen, wie Marshall Rosenberg sie früher durchgeführt hat. Ich selbst könnte das aber nicht tun, weil ich mich vermutlich schon bald übergeben müsste.

Ich vergebe mir selbst vollkommen.

Wenn mir jemand nicht verzeiht, kann ich mich für immer schlecht und schuldig fühlen, oder ich kann mir zumindest selbst vergeben. Dies gilt auch, wenn ich selbst diejenige war, die mich ins Unrecht gesetzt hat – das kommt sogar besonders häufig vor, denn unser innerer Kritiker geht ja nicht gerade zimperlich mit uns um.

Doch sich selbst vergeben geht nicht einfach so. Ein Schuldgefühl ist nichts, das man einfach so wegdenken kann. Das liegt daran, dass Emotionen vom limbischen System gesteuert werden, nicht von der Großhirnrinde. Durch Gedanken allein können wir nicht entscheiden, ein Gefühl loszuwerden. Die Arbeit muss tiefer gehen. Ich empfehle dazu das Buch Die radikale Selbstvergebung von Colin Tipping und diese Arbeitsblätter, ebenfalls von Colin Tipping.

Unsere Volksschuld

Ich kann keinen Artikel über Schuld schreiben, ohne die Schuld anzusprechen, die wir Deutschen auf uns geladen haben.

Wenn ich Deutsche bin, habe ich automatisch die Schuld meiner Vorfahren geerbt, auch wenn meine direkten Vorfahren Sozialdemokraten sind und die Nazis nicht unterstützt haben. Kraft meiner Volkszugehörigkeit hänge ich mit drin.
Und es tut mir aufrichtig leid, was wir Deutschen mit den Juden gemacht haben und mit all denen, die keine Juden waren und ebenfalls ermordet wurden. Es war unmenschlich und monströs, und ich bedauere es zutiefst. Gerne würde ich es ungeschehen machen, wenn ich könnte. Ich würde gerne dazu beitragen, dass die Deutschen die Juden um Vergebung bitten.

Der Spiegel berichtete im Jahr 2009, dass der damalige Papst Johannes Paul II die Juden in Jerusalem um Vergebung gebeten hatte. Der Artikel verrät allerdings nicht, ob die Vergebung erteilt worden ist. Gemäß einem Artikel auf diepresse.com verzeihen Dreiviertel der Juden den Deutschen jedoch nicht. Erstaunlicherweise sind unter den Menschen, die zu vergeben bereit sind, eher ältere Menschen.

Ein besonders berührendes Beispiel dafür, dass auch das Unverzeihliche vergeben werden kann, damit einen die Bitterkeit und der Hass nicht von innen auffrisst, ist die absolut zauberhafte Pianistin Alice Sommer-Herz (Nomen est Omen!), die 2014 im Alter von 111 Jahren gestorben ist. Trotz ihrer Zeit in Theresienstadt hat sie niemals Hass empfunden, wie sie u.a. der EMMA erzählte. Hier können Sie sie in einem englischen Video erleben, das Anthony Robbins mit ihr gemacht hat:

In einem Satz sagt sie: „Manchmal passiert es, dass ich dankbar dafür, dass ich da war (gemeint ist: im KZ), denn ich bin reicher als andere Menschen. Meine Reaktion auf das Leben ist eine ganz andere.“ Es gibt unzählige Videos über sie – und sie hat sogar eine Facebook-Fanpage.

Ich frage mich, was passieren würde, wenn wir Deutschen uns selbst vergeben würden, dass wir zugelassen oder daran mitgewirkt haben, dass sechs Millionen Juden vergast wurden. Vielleicht würden wir dann zum ersten Mal wirklich den Schmerz, die Angst und das Entsetzen körperlich spüren, die die betroffenen Menschen erleiden mussten, bevor sie starben. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn jeder Deutsche sich einmal ein KZ anschauen würde, aber nicht, um sich an die Kollektivschuld zu erinnern, sondern um echtes, tiefes Mitgefühl zu erleben – und (sich) danach zu vergeben.

Löschen Sie die Schuld – aus Ihrem Vokabular und aus Ihrem System.

Es ist ein Trugschluss, zu glauben, dass wir ohne das Schuldkonzept alle gewissenlose Anarchisten wären. Das wurde uns zwar von der Kirche so eingeimpft, aber tatsächlich sind wir soziale Wesen, die ein Bedürfnis nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit haben und sich ganz von selbst sozialverträglich verhalten. Marshall Rosenberg erzählt in seinem Buch „Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation“ eine Geschichte aus einem weiteren Buch, nämlich von dem Naturvolk der Negritos: Wenn jemand dort jemand anderem einen Schaden zugefügt hat, wird er in die Mitte eines Kreises gestellt und umringt von allen Menschen, die ihn kennen. Diese verbringen einen ganzen Tag damit, aufzuzählen, durch welche wunderbaren Dinge, die der Täter sonst getan hatte, er ihr Leben bereichert hatte.

Mitgefühl und echtes Bedauern können überhaupt erst erblühen, wenn man nicht auch noch unter einer Schuldlast leidet.

Probieren Sie mal aus, von „verantwortlich“ oder „kausal“ zu sprechen anstatt von Schuld. Schauen Sie mal hin, wie sich eine Situation verändert, wenn Sie das Schuldprinzip bewusst draußen lassen und stattdessen nur anschauen, wie ein Schaden entstehen konnte, wer kausal daran mitgewirkt hat und ob man den Schaden kompensieren kann.

Wenn Sie sich mal wieder für etwas schuldig fühlen, dann vergeben Sie sich, z.B. mit der Methode von Colin Tipping.