Normal und unnormal. Diesen Begriffen begegne ich – wie sicherlich die meisten von Ihnen – in meinem Leben andauernd. Sie sind aus meiner Sicht vollkommen nutzlos, denn jeder versteht etwas vollkommen anderes darunter.
Normal leitet sich von Norm ab. Und wer bestimmt die Norm? Jeder für sich. Und jeder denkt natürlich (unbewusst oder bewusst), dass er weiß, was wirklich normal ist. Also nicht nur für ihn, sondern für alle. Eine allgemeingültige Norm also.
Dieses Denken führt zu unglaublich vielen und tiefgehenden Konflikten. Denn wenn ich weiß, was normal ist, lege ich diese Messlatte an alles an, was mir begegnet. Zunächst entscheide ich, ob ich selbst eigentlich normal bin. Wenn ich unter tiefen Minderwertigkeitskomplexen leide, werde ich mich z.B. vermutlich für unnormal halten. Und dann sind für mich die meisten Anderen normal, nur ich nicht. Was daraus folgt, will ich jetzt nicht vertiefen.
Wenn ich mich hingegen für normal halte (und das tun die meisten Menschen), finde ich all die Menschen, Klamotten, Lieder, Essensgewohnheiten, Gesprächsthemen, Glaubensrichtungen usw. normal, die mir vertraut sind.
Ich selbst lege die Norm fest – weiß das aber in der Regel nicht.
Dies klingt zunächst ziemlich banal, und vielleicht fragen Sie sich, wo das Problem dabei ist. Es ist übrigens nicht banal. Schon bei einer simplen Zielgruppenbestimmung stoße ich ständig an die Mauer des Normalen. Woher soll ich wissen, was für meinen Auftraggeber normal ist? Jeder lebt ja in seiner eigenen Welt, und jeder hält daher etwas anderes für normal. Wir können das Normale oft nicht mal erklären, denn es ist zu unbewusst, als dass wir dafür überhaupt eine Beschreibung hätten. Meine Auftraggeber sind oft ein bißchen genervt, wenn ich bei der Zielgruppenbestimmung Fragen über Äußerlichkeiten stelle. „Sie zieht sich normal an“, höre ich oft. Heißt das Jeans und Pullover oder Kostüm und Pumps? Wenn Jeans und Pullover – welche Art von Jeans? Weite oder enge? „Sie hört normale Musik, also alles, was im Radio kommt.“ Ok. Welcher Radiosender? HR2? HR 3? HR 4? SWR 3? FFH? Das Spektrum im Radio geht von Klassik über Schlager und Volksmusik zu Oldies, Pop, Rock, Techno, Jazz usw. Welche Musik ist normal? Und schon jede Musikrichtung hat wieder zahlreiche Untergruppierungen.
Aber besonders schwierig wird es bei Verhaltensweisen. Wie verhält man sich eigentlich normal? Ist man unnormal, wenn man raucht? Oder ist man nur normal, wenn man raucht? Ist man normal, wenn man gelegentlich „ein Bierchen“ (man beachte die Verniedlichung!) trinkt, oder ist man dann schon auf dem Weg zum Alkoholiker?Ist man fernsehsüchtig, wenn man jeden Tag fernsieht und normal, wenn man keinen hat? Oder ist man normal, wenn man sich jeden Tag mindestens drei Telenovelas reinzieht – und ist man ein unnormaler, hysterischer Fanatiker, wenn man seinen Kindern nur einmal in der Woche erlaubt, die Glotze anzuschalten?
Ist man normal, wenn man an ein mechanistisches Weltbild glaubt, oder ist man normal, wenn man an Gott glaubt? Wenn man an Gott glaubt, ist man dann unnormal, wenn man sich vor dem Teufel fürchtet und keinen Sex vor der Ehe hat, oder ist man unnormal, wenn man jedes Jahr zu einem indischen Guru fährt?
Normal ist, was ich automatisch tue, ohne darüber nachzudenken. Normal ist alles, wo ich mich zugehörig fühle. Jeder Mensch bildet in seiner Skala die Nulllinie, alles andere ist also besser oder schlechter. Wenn man besonders arm ist, sind die Reichen unnormal, wenn man besonders reich ist, sind die Armen unnormal. Man grenzt sich gerne ab gegen das Unnormale. Normal ist immer so, wie man selbst ist.
Und weil ich selbst normal bin, erwarte ich, dass die Anderen sich ebenso normal verhalten. Also so wie ich selbst – bzw. muss ich hinzufügen, dass der Andere sich nur dann so verhalten soll wie ich, wenn es eine Verhaltensweise ist, die ich an mir mag.
Blöderweise haben die Anderen ebenfalls eine Vorstellung, wie normales Verhalten ist, und es ist Glücksache, ob ihre Vorstellung von normal mit meiner deckungsgleich ist. Häufig sind die Norm-Vorstellungen nämlich total unterschiedlich. Und das führt zu Konflikten. Normalerweise.
Warum das alles?
Weil die Normalität so viel Zwietracht in die Welt bringt. Die Bewertung in Normal und Unnormal dient nur der Trennung, nicht der Verbindung. Und sie sagt nicht einmal etwas aus.
So weit für’s Erste.
Denken Sie mal drüber nach, wenn Sie das nächste Mal etwas normal oder unnormal finden. 🙂
Sehr aufschlussreich… da fällt mir spontan die Signatur einer mir bekannten Hundezüchterin ein.
„Normalität ist Ansichtssache“
by Birgit Primig
„Normalität ist Ansichtssache“ ist weit mehr als eine Signatur, sondern mein Firmenmotto als PR-Beraterin und Trainerin.
Warum? Weil ich aus vielen Jahren Arbeit in und für Organisationen für Menschen mit Behinderung gearbeitet habe. Das verschiebt so manches Urteil über Normalität. Und weckt die Neugier auf Menschen. Wer Menschen in ihrer Vielfalt als normal erlebt, erweitert die Möglichkeit, ständig neue Erfahrungen zu machen.
In diesem Sinn ganz normale Grüße,
Birgit Primig
Schön, dass wir uns hinsichtlich der Normalität einig sind. 🙂