Gestern Abend schaute ich in der ARD die Doku „Der Sturz“ und sah zum ersten Mal Margot Honecker.
Ich war sehr fasziniert von dieser Sendung, denn ich bin grundsätzlich sehr neugierig, wie „Täter“ über eine Zeit bzw. über eine Erinnerung berichten, in der sie Menschen das Leben schwer gemacht haben: wieviel Bewusstsein hat der Täter über das Leid, das er über andere Menschen gebracht hat? Wie beurteilt er sein Handeln? Was macht er mit der Erinnerung?
Als erstes war ich beeindruckt, wie klar Margot Honecker wirkte – und wie sympathisch eigentlich. Auf den ersten Blick war sie eine gebildete alte Dame mit feinen Gesichtszügen und wachen Augen. Ich war daher sehr neugierig, zu hören, wie sie die Wende-Zeit schilderte und wie sie sie erlebt hat. Und als ich mich auf ihre Welt einließ, verstand ich sie. [Was nicht heißt, dass ich ihr Verhalten billige!!!]
Jeder Mensch handelt aus seiner Sicht vollkommen nachvollziehbar. Wenn man sich komplett in die Schuhe eines anderen stellt und seine Biografie und Gemütsverfassung berücksichtigt, ist das Verhalten jedes Menschen folgerichtig. Dass wir das Verhalten anderer oft nicht verstehen, kommt daher, dass wir ihr Verhalten nur aus unserer Perspektive beurteilen – und aus unserer Perspektive ist es unlogisch.
Alles ist immer völlig subjektiv. Ich bekam ein noch tieferes Verständnis von dieser Wahrheit (die folgerichtig auch nur meine subjektive Wahrheit sein kann), als ich hörte, wie Margot Honecker sich zu Vorhaltungen äußerte, die ihr gemacht wurden. Ich hatte nicht den Eindruck, sie redet sich raus. [<- Ich werde ab jetzt nicht mehr schreiben, dass „ich den Eindruck hatte“, sondern ich werde es so darstellen, als sei es so – einfach, damit ich nicht dauernd dieselben Worte wiederhole. Tatsächlich ist aber alles nur mein persönlicher Eindruck.] Sie hat das alles wirklich so erlebt. In ihrer Welt war Erich Honecker nicht realitätsfremd. In ihrer Welt gab es wirklich Feinde der DDR, und in ihrer Wahrnehmung tat man wirklich alles für die Bevölkerung, so dass sie Grund hatte, beleidigt zu sein, dass so viele das Land verlassen wollten. In ihrer Welt gab es auch keine Zwangsadoptionen.
Und ich glaube ihr. Nicht, dass ich glaube, dass es wirklich keine Zwangsadoptionen gab oder dass man wirklich alles für die Bevölkerung tat. Natürlich gab es Zwangsadoptionen (nehme ich wenigstens an – ich komme ja nicht aus der DDR). Aber ich glaube ihr, dass sie alles so wiedergibt, wie sie sich erinnert und wie es für sie war. Ich glaube nicht, dass sie lügt. Es war nicht so, wie sie sagt, aber sie spricht ihre Wahrheit. Ihre Wahrheit weicht stark von der Wahrheit der meisten Menschen ab, aber sie lügt nicht. Lügen heißt in meiner Definition: wider besseres Wissen sprechen. Und ich glaube, das tut sie nicht. Jemand, der viel lügt, hat einen verschleierten Blick, denn bewusstes Lügen wirkt wie Nebel und macht auf Dauer unklar. Aber Margot Honecker hat einen ganz klaren Blick.
In ihrer Welt gab es wirklich keinen Schießbefehl, sondern Regelungen zum Gebrauch der Waffe. Das ist schönfärbendes Amtsdeutsch, hinter dem man sich verstecken kann, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen, so wie es überall vorkommt. Aber man muss das im Zusammenhang sehen: in Margot Honeckers Welt war der Real Existierende Sozialismus das Beste, was man haben konnte, und wer das nicht einsah und aus dem „Schlaraffenland“ abhauen wollte, musste eben mit Waffengewalt daran gehindert werden.
Ich hätte sie gerne gefragt, warum die Menschen eigentlich nicht selbst entscheiden durften, ob sie gehen oder im Schlaraffenland bleiben wollen, aber ich habe ja das Interview nicht geführt.
Erinnerungen sind oft nicht faktisch. Wenn die Kinder groß sind, erinnert man sich z.B. nicht an die nervigen Situationen, sondern an die schönen Erlebnisse. Man erinnert sich so, wie es in das eigene Leben passt, und wie es für das eigene Weltbild am besten ist. Und je nach Tagesform erinnert man sich an andere Erlebnisse: wenn man glücklich ist, erinnert man sich an die schönen Tage, wenn man depressiv ist, erinnert man sich, dass man eigentlich schon immer depressiv war.
Und da Erinnerungen nur Gedanken sind, können sie (die Erinnerungen) sich verändern, umso länger sie zurückliegen. Und wenn sie in der gegenwärtigen Situation nicht mehr opportun sind, erinnert sich der ehemals stramme Nazi irgendwann, dass er eigentlich ein tapferer Widerstandskämpfer war.
Niemand ist gerne ein Arschloch. Und wenn man doch ein Arschloch war, dann „photoshoppt“ man seine Erinnerung, damit man besser in den Spiegel kucken kann. Ob man das vorsätzlich tut, oder ob es einfach so passiert, hängt sicher vom Einzelfall ab.
Weltbilder sind hermetisch. Aber Margot Honecker erinnerte sich überwiegend nicht „falsch“, sondern sie bewertete das Geschehene einfach anders – eben so, wie es in ihr Weltbild passt. Ein Weltbild ist nicht einfach nur eine Ansammlung von Gedanken, die man mir-nichts-dir-nichts umwerfen kann. Vom Weltbild hängt das gesamte Leben ab, der gesamte Sinn, den man seinem Leben gibt. Man lässt nicht zu, dass das Weltbild zusammenbricht, denn dann bricht alles zusammen. Das ist so, als ob man erst in einem ordentlichen, ruhigen Ort in der Schweiz lebt und sich plötzlich und unabsichtlich auf einer Kreuzung einer indischen Großstadt wiederfindet. Völliges Chaos. Das will man nicht. Und deshalb bewertet man alles, was man erlebt, vor dem Hintergrund des schon vorhandenen Weltbildes. Und weil jeder ein eigenes Weltbild hat, das sich von den Weltbildern anderer Menschen unterscheidet, kann man trefflich diskutieren, wer Recht hat. Alle politischen Diskussionen funktionieren so, und darum gibt es in Deutschland auch unterschiedliche Parteien. Jeder hat in seinem Leben einen anderen Fokus, andere Werte, andere Glaubenssätze und Naturgesetze.
Weltbilder werden sogar von der Justiz verteidigt. 1546 wurde Galileo Galilei geboren, Philosoph, Mathematiker, Physiker und Astronom. Weil er behauptete, die Erde drehe sich um die Sonne (und nicht umgekehrt), wurde er der Ketzerei beschuldigt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Erst als Galilei schwor „…stets geglaubt zu haben, gegenwärtig zu glauben und in Zukunft mit Gottes Hilfe glauben zu wollen, alles das, was die katholische und apostolische Kirche für wahr hält, predigt und lehret“, wurde das Todesurteil zuerst in Kerkerhaft und später in Hausarrest umgewandelt.
Auch in der Gegenwart wird ein Weltbild von der Justiz verteidigt: Für die deutschen Gerichte gilt das mechanistische Weltbild. Nach diesem Weltbild existiert nichts, was nicht wissenschaftlich beweisbar ist. Heilmethoden, die nicht in aufwändigen Doppelblind-Studien wissenschaftlich bewiesen werden können, sind demnach Scharlatanerie, und man muss die Bevölkerung vor ihnen schützen. In anderen Ländern gilt dieses Weltbild nicht, daher arbeiten z.B. in England Geistheiler mit Krankenhäusern zusammen. Aber ich will nicht abschweifen.
Zurück zur DDR – natürlich finde ich, dass sie eine Diktatur war. Ich will auch Margot Honecker nicht entschuldigen. Jemanden zu verstehen und sich in ihn einfühlen zu können, heißt nicht, dass man mit ihm einer Meinung ist. In meinem Fall heißt es nur, dass ich eine Menge über’s Gehirn weiß und wohl mehrmals „Hier!“ geschrieen habe, als Gott die Spiegelneuronen verteilt hat.
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