Sascha Burkard@fotolia.de

Gestern fand ein Übungsabend statt. Wir waren zu viert, also drei  Teilnehmer und ich. Kein Teilnehmer hatte ein eigenes Thema mitgebracht, aber eine TN wollte anschauen, wie man sich in einen sehr aggressiven Menschen einfühlt, damit er nicht straffällig wird. Nachdem wir uns dem Thema eine Weile intellektuell genähert hatten, schlug ich vor, einen richtigen Prozess zu machen, damit es nicht langweilig wird. Denn Drüberreden ist öde – ich wollte den Teilnehmern lieber eine echte Erfahrung vermitteln.

Ein Teilnehmer war Lehrer, und er hat einen 13jährigen Schüler in seiner Klasse, bei dem er befürchtet, er könne irgendwann Amok laufen: er stehe komplett außerhalb der Klasse, wasche sich nicht und halte alle Aggressionen zurück. Wir wollten anschauen, wie es diesem Jungen geht und was er braucht.

Ich ging in die Rolle – und damit auch in das Feld – des Jungen, weil sich kein anderer traute, aber ich benutzte die Wolfspuppe dafür, damit ich nicht so tief in das Feld einsteigen musste. Die Teilnehmer redeten mit dem Schüler – nennen wir ihn mal Simon.

Ich fühlte, dass es mehrere Gründe dafür gibt, warum Simon sich nicht wäscht.
Er steht völlig alleine da. Er fühlt sich einsam, und das einzige Bedürfnis, das er sich im Moment noch erfüllen kann, ist Signifikanz. Besonders intensiv abgelehnt zu werden, erfüllt das Bedürfnis nach Signifikanz zwar nicht ganz so stark, wie wenn man angehimmelt wird, aber immerhin ist man einzigartig.

Simon hat zwar auch ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, aber er sieht überhaupt keinen Weg, sich dieses Bedürfnis zu erfüllen, also versucht er es gar nicht erst. Wenn überhaupt erfüllt er sich das Zugehörigkeitsbedürfnis, indem er einfach zu sich selbst gehört – indem er stinkt. Sein Eigengeruch verschafft ihm Sicherheit.

Das zu entdecken war interessant, denn darauf war ich noch nie gekommen. Ich konnte deutlich fühlen, dass Simon lieber das „Spatz-Bedürfnis“ Integrität erfüllen wollte (indem er stank) als das „Tauben-Bedürfnis“ Zugehörigkeit (indem er z.B. versuchte, sich wieder sozialverträglich zu verhalten)  – denn es war ungewiss, ob er es nähren könnte und was er dafür alles tun müsste. Als erstes müsste er sich waschen – und damit seine Abwehr runterfahren, ohne sich jedoch drauf verlassen zu können, irgendwann wirklich zum Ziel zu kommen: dazuzugehören. Denn zur Zugehörigkeit gehört ja mehr als nur Sauberkeit.

Was die Mädchen in Simons Klasse an ihm bemängeln, ist, dass er sich ihnen manchmal plötzlich nähert und sie umarmt, ihnen bis zur Toilette nachläuft. Sie finden das Verhalten vollkommen unangemessen, da dieser Annäherung ja kein sozialer Kontakt vorausgeht, sondern vollkommen unvermittelt geschieht. Simon wurde gefragt, warum er das tue. Er konnte keine Antwort geben, weil ihm dafür die Worte fehlten. Ich konnte den Grund aber sehen und antwortete sozusagen „aus dem Off“: Simon hat pubertätsbedingt überhaupt keinen Überblick. Er merkt gar nicht, dass sein Verhalten daneben ist.

Um eine Situation überblicken zu können, muss es einem entweder gerade sehr gut gehen, oder man muss darauf konditioniert sein, alle atmosphärischen Veränderungen wahrzunehmen (Kinder von Drogenabhängigen sind z.B. auf diese Weise „geschult“). Wenn man jedoch nicht so konditioniert ist und es einem gerade auch nicht gut geht, dann hat man eher einen Tunnelblick. Der Tunnel mag mal größer und mal kleiner sein, aber es ist ein Tunnel.Die meisten Menschen haben sehr oft einen Tunnelblick – man kann es daran erkennen, dass wir uns angegriffen fühlen, dass wir alles auf uns beziehen, dass wir überall Feinde bzw. Konkurrenten wittern usw. Je schlechter es uns geht, desto enger ist der Tunnel, und desto weniger können wir wahrnehmen, was andere gerade brauchen, und was die Gesamtsituation gerade erfordert. Wir können dann keine größeren zeitlichen Zusammenhänge überblicken, und wir können uns nicht einfühlen.

Wenn Simon sich also auf ein Mädchen stürzt, dann tut er das, weil etwas in ihm das einfach macht. Er ist in diesem Moment gar nicht bewusst genug, um überprüfen zu  können, ob das jetzt angemessen ist, und ob der Kontakt zu dem Mädchen tragfähig genug ist, um sich ihr auf diese Weise zu nähern. ES macht es einfach. Simon erlebt seine Emotionen als aufsteigende Körpersensationen, denen er folgt, und er gibt ihnen erst im Nachhinein eine Bedeutung. Das ist übrigens nicht nur bei Pubertierenden so, sondern bei vielen Menschen.

Wenn Simon wütend wird und sich aggressiv verhält, dann muss der Auslöser dieser Wut nicht in der Situation liegen, die er gerade erlebt hat. Die Wut  kann auf ein Ereignis zurückgehen, das vorgestern oder vor einer Woche passiert ist, und das zunächst vielleicht sogar harmlos war – etwa wie der korsische Käse, den die Piraten in „Asterix auf Korsika“ auf ihrem Schiff vergessen hatten (das meine ich zumindest so zu erinnern). Irgendwann explodierte der Käse einfach – und mit ihm das Schiff. Wut ist oft nur ein explodierter Gefühlskäse, den man nicht versorgt bzw. verarbeitet hat.

Was braucht Simon eigentlich? Geduld und Liebe. Eine TN öffnete ihr Herz für ihn und bot ihm an, dass sie ihn ein bißchen adoptieren könne, dass er also einfach zu Besuch kommen könne und z.B. mit ihr und ihren Kindern essen oder etwas unternehmen könne. Simon war zunächst SEHR argwöhnisch und schroff. Er fühlte ihr auf den Zahn, testete sie. Aber weil sie sich in dem 15min dauernden Wortwechsel nicht abschütteln ließ und ihn wirklich mochte, hat er die schwere Eisentür irgendwann einen sehr kleinen Spalt geöffnet.

Simon will stinken dürfen. Er will gemocht und verstanden werden, aber keiner soll was von ihm wollen. Er braucht viel Zeit und Vertrauen, und das bedeutet, die Erwachsenen müssen sehr viel Geduld haben. Man darf keine schnellen Erfolge erwarten, und man darf ihn nicht verarschen.

Es hat mir gut gefallen, mich in Simon einzufühlen. Er tat mir leid, und ich konnte sehen, warum es so schwer für ihn war. Hinterher waren wir alle berührt und bewegt. Und der Lehrer hat gelernt, dass er nicht an Simon ziehen und zerren darf, sondern dass er zunächst für eine laaaaange Zeit einen Raum von Sicherheit und Akzeptanz aufspannen muss, in den sich die anderen Klassenkameraden einklinken können. Dies geht – auch das fanden wir heraus – nur mit göttlicher Hilfe, damit das ungeduldige, erwachsene Ego des Klassenlehrers nicht alles vermasselt. Keine leichte Aufgabe.