Kennen Sie das? Sie treffen sich mit Horst und Helga, und schon auf der Autofahrt zurück nach Hause hecheln Sie mit Ihrem Partner alles durch: dass Helga immer fetter wird, wie fad das Essen geschmeckt hat und wie frech oder dumm die Kinder waren. Sie überlegen, ob Horst wohl eine Andere hat, und dass er mit seinem neuen Auto ja ganz schön auf die Kacke gehauen hat.
Haben Sie sich auch schon gefragt, was uns dazu bringt, nach einem gemeinsamen Abend über unsere Freunde herzuziehen? Und wahrscheinlich haben Sie sich deswegen auch schuldig gefühlt? Aber Sie machen es immer wieder. Und das ist auch normal.
Ein solches Verhalten kommt dann vor, wenn Sie nicht mit Horst und Helga selbst offen sprechen können. Wenn Sie nämlich Helga sagen könnten, dass sie immer dicker wird, dann hätten Sie gar nicht das Bedürfnis, es hinter ihrem Rücken zu äußern. Und wenn Ihr Verhältnis zu Helga so offen wäre, dass Sie ihr sagen könnten, dass Sie mehr Gewürz am Essen brauchen, oder wenn Sie ihr hätten beim Kochen helfen können/dürfen, dann wäre auch dieses Thema nicht mehr auf Ihrem „Schirm“. Gleiches gilt für die Kinder – stellen Sie sich vor, Sie hätten diesen direkt sagen können, dass Ihnen ein bestimmtes Verhalten nicht gefällt, ohne dass Horst oder Helga mit Ihnen eine Diskussion darüber angefangen hätten, dass Ihre Kinder noch viel schlimmer sind.
Und das gibt es auch im Kleinen: wir sind aus Höflichkeit nicht ehrlich: wir sagen es nicht, wenn jemand uns nervt. Wir beenden Telefonate aus Höflichkeit nicht, sondern warten, bis der andere endlich fertig ist. Wir sind sauer, dass derjenige nicht gemerkt hat, dass wir längst auflegen wollten. Und hinterher sprechen wir abfällig über diese Person, die uns so lange am Apparat festgehalten hat. Hätten wir es sagen können, ohne Angst vor Schuldgefühlen zu haben, wäre der Konflikt aus unserem Kopf verschwunden.
Alles, was wir nicht offen besprechen können, bleibt präsent: Wenn Ihr alter Freund ständig mit seinen neuen technischen Spielzeugen angibt, aber keine Kritik verträgt, werden Sie genervt sein von seinen Angebereien, Sie werden sie aber dulden – zum einen um der alten Zeiten willen, zum anderen, weil Sie genau wissen, dass es ohnehin nichts bringt, wenn Sie es ihm sagen und zum dritten, weil Sie ihn nicht verletzen wollen. Sie würden nur die Freundschaft gefährden. Oder Ihre Freundin hat einen neuen Freund und Sie befürchten, er wird sie genauso schlagen wie es auch die anderen fünf vor ihm taten. Ihre Freundin will aber nichts hören. Sie wissen genau, sie wird wieder verprügelt werden und Sie können nichts tun.
Was werden Sie tun? Sie werden es jemand anderem erzählen. Sie werden mit anderen Menschen über Ihre prügelsüchtige Freundin oder den angeberischen Freund sprechen. Sie werden darüber sprechen, wie sehr es Sie nervt bzw. wie sehr Sie besorgt sind. Sie haben das Bedürfnis, das Thema loszuwerden, und die einzige Strategie, die Ihnen einfällt, ist, es jemand anderem zu erzählen.
Immer wenn wir uns in einer Situation anders verhalten als wir uns fühlten, kann uns das so sehr belasten, dass wir hinterher mit irgendjemandem darüber reden müssen. Wir haben um des lieben Friedens willen den Mund gehalten und ein freundliches Gesicht gemacht, obwohl eine Stimme in uns lieber gesprochen hätte. Oder wir haben Ja gesagt, obwohl wir Nein meinten. Oder wir sehen einen Angehörigen in sein Unglück rennen, werden aber nicht um unsere Meinung gefragt.
Alle Beziehungen, in denen man nicht offen sein kann, sind früher oder später zum Scheitern verurteilt. Entweder, indem man die Beziehung sanft sterben lässt, weil man sich „aus den Augen verliert“. Oder indem man – immer noch vorsichtig und ängstlich – in zynische und sarkastische Bemerkungen flüchtet, welche die andere Seite nicht oder falsch versteht. Und das endet dann auch irgendwann mit dem Tod der Beziehung.
Oder indem der unter den Teppich gekehrte Müllhaufen irgendwann so groß wird, dass er gärt und explodiert. Dann fliegt einem alles um die Ohren und die Beziehung (Freundschaft, Ehe, was auch immer) endet in einem lauten Crash.
Ein wundervoller Film dazu ist das Kammerspiel „Der Gott des Gemetzels“ mit Jodie Foster, Christoph Waltz und Kate Winslet. Zwei Ehepaare treffen aufeinander, weil ihre Söhne einen tätlichen Konflikt miteinander hatten, bei dem das Auge des einen verletzt wurde, und sie wollen klären, was nun zu tun ist. Sie verhalten sich nett und höflich miteinander, aber irgendwann bekommt die Fassade Risse und die Situation endet schließlich im Eklat. Sie können den Film als Entwicklung einer netten, höflichen Beziehung im Zeitraffer auffassen.
Manche Beziehungen und Freundschaften hingegen sind so harmonisch, dass man nur positiv an die Person denkt. Es sind immer solche, in denen große Offenheit möglich ist, in denen also beide Seiten alles aussprechen können, was sie auf dem Herzen haben, und die andere Seite kann es hören und annehmen.
Ich habe zwei Freundschaften, in denen ich alles sagen kann: ich kann es sagen, wenn die Freundin mal „ins Ego“ geht, wenn ich ihren Freund/Mann blöd finde, wenn ich mich über sie ärgere etc. Dadurch ist die Freundschaft immer „sauber und aufgeräumt“.
Genauso ist es mit meinem Mann: wir haben wenig Konflikte, und diese wenigen lösen wir meist sehr schnell auf. Dadurch freue ich mich immer, wenn ich ihn sehe – und umgekehrt.
Beigelegte Konflikte erinnert man kaum mehr. Sie sind wie die letzten Teile von Fernsehserien, die mit einem Happy-End abgeschlossen wurden. Sie sind komplett und damit verschwinden sie aus der Erinnerung. Die Erinnerung an aufgelöste Konflikte verblasst so sehr, dass man sie nicht mehr abrufen kann.
Haben auch Sie das Bedürfnis, negative Dinge über eine andere Person mit einem Dritten zu besprechen? Schauen Sie hin, was Sie hindert, offen zu sein. Haben Sie Angst, die andere Person zu verletzen? Dies ist Angst vor Schuldgefühlen. Vielleicht gibt es einen Weg, offen zu der Person zu sagen, ohne sie zu verletzen? Dies erfordert natürlich die Fähigkeit, den eventuell wirklich auftauchenden Schmerz der anderen Person empathisch zu hören.
Oder haben Sie einen Schmerz, weil die andere Person Ihnen sowieso nie zuhört?
Ich bin neugierig auf Ihre Erfahrungen!
Puuuh, interessante Theorie. Viel netter als meine 😛
Ich hab die Leute einfach für gehässig/schlecht erzogen gehalten, die dauernd hinter dem Rücken über andere lästern. Nie habe ich mir Gedanken gemacht, woher dieser „Drang“ kommen könnte.. Mhhhh.
Leute die ich nit mag, mit denen verbringe ich auch keine Zeit. Deswegen muss ich dann auch hinterher nit über sie lästern. Und wenn Bekannte/Freunde irgendwas negatives machen/sagen, dann spreche ich es meist gleich (ironisch) an, so dass ich deswegen nach deiner Theorie keinen inneren Zwang verspüre es hinterher noch mal aufzuwärmen.
Ich kann deine Theorie bei näherer Überlegung mit vielen persönlichen Beispielen verifizieren. Diejenigen die während des Gespräches am stillsten sind, lästern hinterher am lautesten.
Erneut ein aufhellender Beitrag.
Gruß
Ein interessanter und einfühlsamer Beitrag zu den Schwächen des Menschen. Danke für die Sensibilisierung. Offenheit erfordert manchmal Mut und die hat man nicht immer.