Ich habe ein Problem mit Begrüßungsritualen. Als ich z.B. ein Kind war, habe ich nicht nur meinen Eltern einen Gute-Nacht-Kuss gegeben, wenn ich ins Bett gehen sollte, sondern auch dem Besuch meiner Eltern – sofern welcher da war. Ich wollte das eigentlich nicht, aber ich dachte irrigerweise, ich müsse das tun, damit sie nicht verletzt waren. Manchmal waren sie deutlich überrascht und erfreut, weil sie offenbar selbst nicht dachten, dass ich ihnen einen Kuss hätte geben müssen. Und jedes Mal, wenn mein Kuss eine überraschte Reaktion auslöste, ärgerte ich mich, dass ich es getan hatte, wo doch offenbar keine Notwendigkeit bestand. Aber leider habe ich mir das nie bis zum nächsten Besuch gemerkt.

Auch heute, als 47jährige Erwachsene, geht es mir ähnlich. Ich verteile zwar nicht mehr so wahllos Wangenküsse wie als Kind, aber ich umarme. Wenn ich in eine Umgebung komme, wo ich mehrere Menschen umarme, kommt es mir so vor, als sei ich verpflichtet, das mit allen zu machen, damit sich keiner zurückgesetzt fühlt. Wie damals als Kind habe ich immer noch Angst, jemanden zu verletzen und gehe daher jedes Mal über meine Grenzen. Wenn ich eine Person in einem Raum drücke, denke ich, ich muss das mit allen machen, damit sie nicht beleidigt sind.

Heute saß ich im Auto und fuhr zu einer regelmäßigen Veranstaltung, von der ich wusste, dass da wieder dieser ältere Mann sein würde, der mich immer „mal drücken“ will, und den ich eigentlich nicht mag. Ich malte mir aus, dass ich sagen würde „Du, eigentlich will ich dich gar nicht umarmen“ und kam mir zickig vor. Schließlich hat er mir ja nichts getan, will ja nichts von mir, kann mich einfach gut leiden, und da kann ich ihn ja mal kurz umarmen, oder? Tut ja nicht weh. Ist ja schnell wieder vorbei.

Also habe ich wie immer erlaubt, dass er mich drückte, obwohl ich es nicht wollte, und obwohl er nach Zigarettenrauch roch. Ich begnügte mich damit, dass ich ihn nur sehr locker und förmlich umarmte und auch nur bei der Begrüßung, nicht beim Abschied. Aber ich bin über meine Grenzen gegangen. Wie ich es auch anstelle, da sind Schuldgefühle – entweder für mich selbst, weil ich gegen meinen Willen handele oder weil ich den Mann verletze. Interessant, dass ich mich lieber selbst verrate.

Es gibt noch einen älteren Mann, den ich manchmal sehe, und er hat noch nie einen Satz an mich gerichtet, aber er küsst mich sogar auf die Wange! Es ist ein Onkel meines Mannes, und zum Glück sehe ich ihn nur ganz selten. Beim letzten Mal habe ich ihm so steif die Hand gegeben und den Arm dabei so gerade ausgestreckt, dass er nicht an mich herankam. Er konnte mich nicht küssen, machte aber zum Glück keine große Sache draus. Beim Abschied musste ich sehr wachsam sein, dass ich daran dachte, wieder den Arm auszustrecken. Beinahe hätte ich es vergessen.

Es ist unglaublich schwierig für mich, mit halbdistanzierten Kontakten umzugehen: Menschen, die ich gut genug kenne, um regelmäßig ein paar Sätze mit ihnen zu wechseln, aber nicht gut genug, um ein persönliches Gespräch zu führen. Bei diesen Menschen zeige ich mich nett, ohne in die Tiefe zu gehen, schneide keine schwierigen Themen an, sage nicht meine Meinung (die Bedeutung der eigenen Meinung wird sowieso überschätzt, aber das ist ein anderes Thema) und bin geschmeidig. Ich gebe mir Mühe, nichts zu sagen, was sie verletzen könnte, denn ich weiß, dass der flache Kontakt ein ausführlicheres Gespräch nicht hergibt. Falls ich etwas Blödes mache/sage, werde ich keine Chance haben, es aus der Welt zu räumen, weil die andere Person mir aus dem Weg gehen wird – umgekehrt natürlich genauso.

Smalltalk ist für mich unglaublich anstrengend, und natürlich wäre ich lieber immer echt. Aber ich fürchte mich bei diesen halbdistanzierten Kontakten vor der Ablehnung, vor der Schuld und davor, dass dann hinter meinem Rücken über mich gesprochen wird. Oder dass man mir – wie in meiner Kindheit – hinterher zuträgt, die oder der sei sehr verletzt gewesen darüber, was ich getan, gesagt oder nicht getan und nicht gesagt hätte. Als Kind fühlte ich mich dann immer ganz schlecht und wertlos. Die Gefühle und Bedürfnisse der anderen waren wichtiger als meine eigenen. Und das ist so tief in mir verwurzelt, dass es mich immer noch prägt.

Nächste Woche werde ich den älteren Mann, der mich immer drückt, wieder sehen.
Vielleicht finde ich doch noch den Mut, das Drücken abzustellen.