Das Leben ist ungerecht – aber nicht immer zu deinen Ungunsten.
Oscar Wilde

 

Als ehemalige Juristin, aber noch mehr als Mutter, bin ich häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, etwas sei ungerecht – entweder als „Angeklagte“ oder als „Zeugin“. Auch wenn meine Kinder diesen Artikel sicherlich nicht lesen werden, habe ich gerade Lust, mich dieses Themas anzunehmen. Vielleicht hilft es wenigstens Ihnen, der/die Sie diesen Artikel gerade lesen.

Vor Gericht findet der Sieger das Urteil immer gerecht, der Unterlegene findet es ungerecht.

Da wir ein Interesse daran haben, ein positives Selbstbild von uns zu wahren, werden wir uns selbst immer eher als gerecht erleben. Falls wir einem anderen Menschen einen Schaden zugefügt haben, finden wir gute Gründe, sind z.B. durch bestimmte Umstände entschuldigt oder gar gerechtfertigt – in unserer eigenen Wahrnehmung. Der Andere hat es entweder verdient oder die ungerechte Behandlung war die Kompensation für irgendein anders Unbill, das uns irgendwann mal widerfahren ist.

Jeder Mensch hat eine Vorstellung von Gerechtigkeit, und diese haben wir uns durch Sozialisation angeeignet. Menschen fühlen sich daher aus den unterschiedlichsten Gründen ungerecht behandelt – bzw. kann man sich eigentlich gar nicht ungerecht behandelt fühlen. Das ist kein Gefühl. Man denkt, man wird ungerecht behandelt – und wird dann wütend. Und der ganze Schlamassel entsteht auch nur, wenn man vergleicht.

An meinen Kindern kann ich die Unsinnigkeit des Wertes Gerechtigkeit immer besonders gut sehen: Das Kind, das denkt, es werde ungerecht behandelt, hat einen anderen zeitlichen Bezugsrahmen als das andere Kind. Oft „fühlen“ sich beide ungerecht behandelt, weil jedes Kind im nächsten Schritt einfach einen größeren Bezugsrahmen wählt als vorher.

„K1 hat aber heute schon einen Film gesehen, deswegen will ich auch einen sehen!“ (Der Bezugsrahmen ist der heutige Tag).

„Du hast aber die ganze Woche schon jeden Tag einen gesehen und ich noch nicht“! (Nun ist der Bezugsrahmen eine Woche)

„Na und, dafür hast du im letzten Monat viel mehr Filme gesehen!“ (Jetzt umfasst er also einen Monat.)

 Um als Mutter gerecht zu sein, müsste ich eigentlich über alles Buch führen: Über jede Umarmung, jedes Mal Rechtgeben, jeden Film, jedes Eis etc. Da ich nicht weiß, welches Thema meine holden Töchter als Streitgrundlage wählen würden, müsste ich quasi das ganze Leben protokollieren. Das mache ich natürlich nicht, weil ich ja auch nochwas Anderes zu tun habe.

Aber Sie sehen, worauf ich hinaus will, oder? Wir wählen selbst den Bezugsrahmen, in dem wir uns ungerecht behandelt fühlen. Und werden wütend. Wie sinnlos und anstrengend.

Benachteiligung allein ist kein Problem.

Die subjektive Wahrnehmung, benachteiligt zu sein, löst allein bei den meisten Menschen interessanterweise noch keine Empörung aus. Wenn z.B. alle Akteure davon ausgehen, dass jeder selbstverständlich sein Eigeninteresse verfolgt, gibt es zwar Konkurrenz und Kampf zwischen Konkurrenten, aber die Konflikte bleiben friedlich (sportlich), so lange das Handeln der Anderen als legitim angesehen wird. Manche haben Mühe, eine Niederlage zu verkraften, aber diese löst keine Empörung aus.

Beispiel: Wenn am Faschingsumzug meine Kinder unterschiedlich viel Glück beim Bonbon-Aufsammeln haben, gibt es keinen Konflikt. Sie befinden sich im Wettkampf mit anderen Kindern, und jeder tut sein Bestes. Manchmal sind sie kurz sauer, wenn sie sehen, dass die die Leute aus dem Umzugswagen zehn Meter weiter vorne oder hinten mehr Bonbons geworfen haben als bei ihnen, aber da sie mit diesen Leuten keine persönliche Beziehung haben, vertiefen sie dieses Gefühl nicht. Hinterher werden die meisten Bonbons sowieso weggeworfen.

Gerechtigkeit ist ein menschlicher Bewertungsmaßstab, mit dem sich immer einer schlecht fühlt.

Die Natur z.B. verhält sich sehr ungerecht: Es werden nicht alle Landmassen gleichermaßen von Naturkatastrophen heimgesucht, sondern manche viel öfter als andere. Tiere haben eine natürliche Hierarchie, die von niemandem in Frage gestellt wird. Das Leittier bekommt den besten Platz – dies habe ich sogar unter unseren Meerschweinchen beobachten können. Von Gleichheit keine Spur. Gerechtigkeit haben wir Menschen uns ausgedacht, und wenn wir in der unterlegenen Position sind (und das sind wir immer, wenn wir nur lange genug suchen und den Bezugsrahmen so weit wie möglich ausdehnen), finden wir immer einen Grund unglücklich oder wütend zu sein.

Folgende Bereiche bewerten wir als gerecht oder ungerecht:

  • soziale Verhältnisse
  • soziale und gesellschaftliche Ordnungen,
  • Verfahrensweisen in Entscheidungsprozessen
  • positive und negative Sanktionen

 

Soziale Verhältnisse werden als gerecht angesehen, wenn alle bekommen, was ihnen gebührt. Worauf aber das basiert, was ihnen gebührt, darüber kann man schon wieder streiten: Aufgrund dessen, wer sie sind, aufgrund dessen, was sie getan haben, oder aufgrund dessen, was sie vereinbart haben?

 

Sollen wir nach Gleichheit streben?

Immer wieder wird die Gleichheit als Gerechtigkeitskriterium angelegt, z.B. „Gleiches Recht für alle.“

Bei Verteilungen von beliebig aufteilbaren Gütern könnten theoretisch alle in gleicher Weise bedacht werden. Aber wer sind eigentlich „alle“? Alle Menschen, alle Staatsbürger, alle Familienmitglieder, alle Berechtigten? Wer sind die Berechtigten und weshalb sind sie berechtigt? Sollen alle gleich viel bekommen werden – die Mitglieder und die Nichtmitglieder eines Systems, die Faulen wie die Fleißigen, die Bedürftigen wie die Wohlhabenden, oder sollen Unterschiede berücksichtigt werden?

Ist es gerecht, wenn Ungleiches gleich behandelt wird? Und welche Ungleichheiten sind zu berücksichtigen? Ungleiche bisherige Leistungen, ungleiche Bedürftigkeiten (materielle Notlagen, Krankheiten, Behinderungen etc.), ungleiches Alter, Geschlecht, ungleiche Zugehörigkeit (Staatsangehörigkeit, Mitgliedschaft in einem Betrieb), ungleiche Dauer der Mitgliedschaft (Seniorität), ungleiche bisher erhaltene Vorteile, bisher übernommene Lasten etc.?

Beispiel: K2 beschwert sich häufig, dass sie nicht so viel dürfe wie K1. K1 ist die Ältere, und auch wenn sie real nur 2 Minuten früher geboren wurde, ist sie gefühlt mindestens 1 Jahr älter. Sie hält sich an Absprachen, vergisst selten etwas und hat einen guten Überblick. K2 ist eher wie ich: Aus den Augen, aus dem Sinn. Wir beide vergessen leicht etwas, und den Überblick behalten wir oft auch nicht. K1 und K2 sind also in manchen Bereichen ungleich, und daher dürfen sie auch unterschiedlich viel – aus Sicherheitsgründen. K1 fährt z.B. von ihrer Freundin (die 20 km weit weg wohnt) allein mit dem ÖPNV nach Hause, K2 hole ich von ihrer Freundin (die nur 4km entfernt wohnt) ab. Darüber beschwert sich K1. Ich erkläre es mit der unterschiedlichen Entfernung  und dem Spritverbrauch.

Verteilungsgerechtigkeit – was soll verteilt oder entzogen werden?

In Frage kommen materielle Güter, Rechten und Pflichten, Lasten (z.B. Steuern), Verluste (z.B. Arbeitsplätze), Risiken (z.B. Gesundheitsrisiken) etc. In welcher sozialen Einheit ist die Verteilung gerecht oder ungerecht? Soll z.B. der in einem Land erwirtschaftete Wohlstand nur auf die Bevölkerung des Landes verteilt werden, oder soll die ganze Weltbevölkerung daran teilhaben? Soll man die Gewinne eines Unternehmens auf die Anteilseigner aufteilen, oder müssen auch die Betriebsangehörigen und der Staat beteiligt werden? Und wer soll die Kosten von Umweltschäden durch Industrieanlagen tragen: die Unternehmen, die Allgemeinheit, die künftigen Generationen?

Nach welchen Prinzipien wird die Gerechtigkeit von Verteilungen bewertet?

Möglich sind:

  • Gleichverteilung,
  • Aufteilung von Gütern, Rechten und Positionen nach erbrachter Leistung,
  • Aufteilung von Ressourcen nach Leistungsfähigkeit (z.B. können den Leistungsfähigsten mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um den allgemeinen Wohlstand zu mehren),
  • Aufteilung nach Bedürftigkeit (z.B. bei Zuteilung von Wohnraum),
  • Aufteilung nach Mitgliedschaft und Seniorität der Mitgliedschaft,
  • Aufteilung nach Status (z.B. erhalten bei prozentual linearen Lohnerhöhungen die Besserverdienenden immer höhere Zuschläge in absoluten Zahlen als die weniger gut Verdienenden, im Prinzip der Steuerprogression werde die Besserverdienenden dementsprechend mehr belastet).

Egal, welches Aufteilungsprinzip man wählt, es wird immer jemanden geben, der denkt, er werde ungerecht behandelt.

Fazit: Eine allgemeingültige Gerechtigkeit gibt es nicht.

Das Leben ist ungerecht. Aber wie geht es uns, wenn wir das denken? Fast immer geht es uns schlecht dabei, oder? Gibt es einen guten Grund, der uns kein schlechtes Gefühl bereitet, an diesem Gedanken festzuhalten? Wie wäre unser Leben ohne diesen Gedanken? Stellen Sie sich vor, Sie könnten nicht denken, dass Sie ungerecht behandelt werden. Ihr Verstand könnte das aufgrund eines Defekts einfach nicht tun. Wäre das Leben nicht viel schöner? 🙂
Wenn wir aufhören würden, unserem Verstand ständig zuzuhören, wie er Vergleiche anstellt, würden wir uns gar nicht aufregen, falls jemand mal mehr bekommt als wir.

Und das sage ich auch meinen Kindern.