Meine Töchter sind zwar fast 13, aber sie haben auch Freundinnen, die vier Jahre jünger sind. Eine davon – ich nenne sie mal Lea – schlief gestern bei uns. Lea äußerte schon beim Abendessen, dass sie noch nicht genau wisse, ob sie bei uns schlafen könne, weil sie Angst habe, Heimweh zu bekommen. Ihre Mutter bat per Telefon, dass sie sich doch bitte bis 21 Uhr entschieden haben solle. Wir sprachen davon, was man tun könne, wenn man Heimweh habe und dass man es ja einfach aushalten könne (Lea ist ein schlaues Mädchen, dem man sowas durchaus sagen kann). Um 21 Uhr hatte Lea entschieden, sie wolle hier schlafen.
Wir gingen alle um 23 Uhr ins Bett, und Lea war fröhlich und sagte, sie habe kein Heimweh.
Um 0:36, also im schönsten ersten Schlaf, wachte ich wieder auf, weil ich laute Geräusche von unten hörte. Ich ging leise die Treppe hinunter, und meine Tochter kam aus dem Zimmer und sagte, Lea weine und wolle nun doch nach Hause, aber Andrea, ihre Mutter, gehe nicht ans Telefon. „Ach, wie seltsam“, dachte ich sarkastisch.
Ich hatte wenig Lust, mich ins Auto zu setzen und Lea nach Hause zu fahren (das sind nämlich 15 Kilometer!), und ich wollte auch Andrea das nicht zumuten. Ich war auch ein bisschen angepisst, weil da ein Gedanke aufpoppte, dass ein Kind auch mal ein bisschen Rücksicht nehmen könnte und nicht ohne Not mitten in der Nacht alle Leute aus dem Bett zerren muss, aber ich war zu müde, um ein Fass aufzumachen, und außerdem tat sie mir natürlich auch leid. Ein bisschen. Denn eigentlich weinte sie gar nicht.
Lea ist 9 Jahre alt und ein hübsches, burschikoses Mädchen mit langem, blondem Haar, das immer ein bisschen verstrubbelt ist, weil es teils glatt und teils sehr kraus ist. Sie ist nicht der mädchenhaft zarte Typ, sondern eher kräftig mit stabilen Knochen, aber nicht dick. Sie ist meist fröhlich, manchmal auch zickig und spielt gern Harry Potter-Rollenspiele. Sie weint nur sehr selten, und sogar, wenn sie sich weh getan hat, lacht sie eher. Sie hat zwei nette ältere Schwestern und kann sich insgesamt sehr gut behaupten.
Ich ging zu Leas Besuchsmatratze und wir redeten.
„Wo spürst du denn das Heimweh?“
„Hier“, sie zeigte auf ihren Solarplexus, „und außerdem zittere ich.“
„Und Andrea hast du angerufen, aber sie geht nicht ans Telefon?“
„Ja.“
„Sie schläft wahrscheinlich einfach.“
„Ja, aber sie soll mich abholen, weil ich es nicht mehr aushalte.“
„Wenn sie nicht erreichbar ist, musst du es jetzt wohl doch aushalten.“
„Ja, aber wenn ich Heimweh habe, muss ich mit jemandem reden, und wenn alle schlafen, kann ich ja mit niemandem reden, und dann denke ich an Andrea,“ (alle Kinder nennen ihre Eltern beim Vornamen) „und dann wird es immer schlimmer.“
„Ja, ich weiß, aber das ist nur ein Drama. Es ist nur ein Zittern und nur ein Druck auf deiner Brust. Aber in Wirklichkeit passiert dir ja nichts. Du bist nicht in Gefahr, du bist bei deinen Freunden, es ist trocken, du hast ein warmes Bett, und morgen siehst du Andrea wieder. Du steigerst dich da rein, indem du immer wieder an Andrea denkst.“
Ich dachte an The Work von Byron Katie. Irgendwie musste ich es schaffen, dass Lea den Gedanken an ihre Mutter für die nächsten sechs Stunden loswurde – damit ich wieder ins Bett konnte.
„Wenn du jetzt nicht an Andrea denken müsstest, könntest du schlafen, oder?“
„Ja, aber nur, wenn ich abgelenkt werde. Wenn ich dann alleine bin, denke ich wieder an sie.“
„Aber du bist deinen Gedanken nicht ausgeliefert, sondern kannst einfach etwas anderes denken. Stell‘ dir mal vor, alle deine Gedanken sind wie die Süßigkeiten-Abteilung in einem Kaufhaus. Eine riesige Abteilung voller kleiner Süßigkeiten. Einige Gedanken sind Jelly Beans, andere vielleicht Lutscher, jedenfalls sind es ganz viele, und einige magst du im Moment nicht. Und statt die ganze Zeit auf die Jelly Beans zu starren, kannst du dich einfach umdrehen und die Schokolade anschauen. Stell‘ dir nun vor, der Gedanke an Andrea ist ein Jelly Bean. Damit du ihn nicht mehr denken kannst, steckst du ihn in ein Kästchen, verschließt es und versteckst es im Wohnzimmer unter dem Sofa.“
„Ja, ok. Aber wenn jetzt alle einschlafen, dann bin ich wieder alleine und kann mit niemandem reden“, und wieder begann sie, leicht zu zittern. Ich holte einen Stoffhund, gab ihn Lea und sagte: „Das ist Oskar. Er wird dir assistieren, wenn wir anderen schlafen, und das Tolle ist, er kann Gedanken lesen. Wenn du dich einsam fühlst, kannst du einfach mit ihm reden, und du musst nicht mal laut sprechen.“
„Ja, ok, ich versuchs.“
Ok. Ich ging wieder ins Bett und konnte eine halbe Stunde nicht einschlafen, weil ich ständig befüchtete, dass Lea doch wieder Heimweh bekommen würde. Ich stopfte mir Ohropax in die Ohren, damit ich wenigstens nichts hören würde. Irgendwann schlief ich ein.
Heute Morgen, als die Mädels in die Schule fuhren, verabschiedete sich Lea und sagte: „Vielen Dank, ich konnte dann endlich schlafen und der Gedanke an Andrea kam nicht wieder. Ich habe auch nicht mehr gezittert. Der Gedanke liegt jetzt übrigens immer noch unter eurem Sofa.“
Liebe Michaela,
Das ist eine echt tolle Geschichte!
Mit Bildern kann man so viel erreichen.
Liebe Grüße! Uta