Die folgende Geschichte ist schon ein paar Jahre her, aber sie ist
Meine erste Tochter hatte sich zum 9. Geburtstag Reitstunden gewünscht, und wir haben ihr auch welche geschenkt. Bevor man reguläre Reitstunden bekommt, muss man erst Longierstunden nehmen, in denen man lernt, das Pferd zu „bedienen“, also zu bremsen, Gas zu geben und die Richtung zu wechseln. 😉 Heute um 12:30 war so eine Longierstunde. Wir sind um 12 Uhr losgefahren – eigentlich genug Zeit – wir würden das schon finden. „Haardtwald“ gab ich in den Navi ein und er spuckte mir eine „Haardtwaldstraße“ aus. „Das wird es sein“, dachte ich. Extra in mein Büro zu gehen und den PC anzuschalten erschien mir überflüssig.
Um es kurz zu machen: Der Reiterhof war nicht in der Haardtwaldstraße. Dort gab es zwar einen Reiterhof, aber es war der falsche. Wir verloren wertvolle Minuten, dies herauszufinden. Man sagte uns die richtige Adresse: „Amalienschneise“. Es stellte sich heraus, dass man nochmal 15 Minuten fahren musste, um dorthin zu gelangen. Das Unheil zeichnete sich ab, aber meine Tochter war noch ahnungslos. Als wir dort waren, verfestigte sich meine dunkle Ahnung zur Gewissheit: wir waren zu spät, unser Zeitfenster war geschlossen. Umsonst hingefahren. Ich musste die „Stunde“ (eigentlich waren es nur 20 Minuten) natürlich bezahlen, und wir erhielten für nächsten Donnerstag einen neuen Termin.
Nochmal vier Tage warten. Vier Tage sind gefühlte vier Minuten, wenn man dann zum Zahnarzt muss, aber sie fühlen sich an wie vier Wochen, wenn man unbedingt reiten will.
Mein Kind weinte bitterlich. Lange. Ich konnte es fast nicht aushalten. Die üblichen Floskeln zogen durch meinen Verstand, boten sich an, ausgesprochen zu werden: „Ach komm, sei nicht traurig, es sind doch nur vier Tage!“. „Nein“, antwortete ich den Floskeln dankend, „das sage ich jetzt nicht“. Ich hielt sie im Arm. Ich sagte: „Was für eine Scheiße, oder? Jetzt hast du dich so doll gefreut!“ Mehr Tränen. Ich litt mit – wegen ihr und wegen mir, denn ich wusste ja, dass ich die Adresse hätte sorgfältig aufschreiben können, und dann wäre das vermeidbar gewesen. „Es tut mir so leid“, sagte ich. Sonst sagte ich nicht viel, denn alles, was mir einfiel, hätte nicht ihr gedient, sondern mir. Ich ertrug ihren Schmerz, und ich war präsent in tiefem Bedauern. Immer noch Tränen – sie war sooo traurig. Wütend auf mich war sie seltsamerweise nicht, das bestätigte sie mir, als ich sie fragte. „Ich könnte es verstehen, wenn du wütend wärest“, sagte ich. Sie war aber nur traurig, und in mir tauchte die Frage auf, ob es dadurch schlimmer oder besser wurde. Aber ich beantwortete mir die Frage nicht – ist ja auch egal, dachte ich mir.
Ich beobachtete meine Mechanismen, dem Schmerz auszuweichen – und ein Teil von mir wollte ihr sagen, dass es viel schlimmer ist, jemandem weh zu tun als derjenige zu sein, dem weh getan worden ist. Aber auch das wäre eine Art Wettstreit gewesen, wem es schlechter geht und hätte die Präsenz von ihr abgezogen. Meine innere Zensur war sehr streng, fast nichts hielt ihr stand, denn fast alles, was ich hätte sagen können bzw. wollen, hätte ihre Traurigkeit verharmlost. Also hielt ich die Klappe. Und litt mit.
Nach relativ kurzer Zeit hörte sie auf zu weinen. Sie bestätigte mir, dass es gut gewesen wäre, dass ich einfach ruhig gewesen wäre und sie nicht getröstet hätte.
Das ist Empathie. Und manchmal kann sie schwer sein. Wenn man ursächlich ist für einen Schaden, der einer anderen Person entstanden ist, kommen leicht Schuldgefühle auf. Wenn man sich aber schuldig fühlt, kann man nicht mehr empathisch sein. Man ist dann in seinem eigenen Film, und das zieht die Aufmerksamkeit vom Anderen ab. Wenn man die Schuldgefühle nicht haben will, kann es passieren, dass man die Situation herunterspielt („Ach komm schon, so schlimm ist es jetzt auch wieder nicht!“). Auch das zieht die Aufmerksamkeit vom Anderen ab.
Man will eigentlich nur deshalb verhindern, dass der Andere leidet, weil man die eigenen Schuldgefühle nicht spüren will.
Ich danke Gott, dass ich der Versuchung nicht erlegen bin. Tatsächlich habe ich mich nicht schuldig gefühlt. Ich litt wie ein Schwein, weil ich wusste, dass ich dafür verantwortlich war, dass wir nicht rechtzeitig dagewesen waren, aber schuldig fühlte ich mich nicht. Dadurch war Platz für tiefes Bedauern.
Auf der Rückfahrt dachte ich darüber nach, was es ist, das viele Menschen davon abhält, den Schmerz eines Anderen in Präsenz auszuhalten. Zum einen ist es natürlich die fehlende Übung: Wenn man nur Urteile, Ratschläge, Diagnosen und Trost kennt, hält man diese Reaktionen für die einzig möglichen Alternativen. Man denkt dann eben, man müsse irgendwas sagen, um den Schmerz des Anderen „wegzumachen“. So als ob Schmerz eine giftige Schlange ist, die einen beißt und dann stirbt man.
Die meisten Menschen fürchten sich vor Schmerz – vor ihrem eigenen und dadurch natürlich auch vor dem Schmerz Anderer. Wenn man nicht vollkommen durch Schmerz durchgegangen ist, ist er so unberechenbar wie ein unbekannter See – wer weiß, wie tief er ist und wie viele Autowracks oder abgestürzte Sportflugzeuge sich dort unten verbergen? Lieber am Ufer bleiben oder höchstens mit einem Boot drüberfahren. Nicht reingehen. Wir sind es gewohnt, dem Schmerz auszuweichen und vor ihm wegzurennen. Als wir Kinder waren, hat uns das mal das Überleben gesichert. Es fühlte sich an, als ob wir sterben müssten, wenn wir uns ihm hingeben würden.
Aber wenn wir auch als Erwachsene vor Schmerz davonlaufen, führt es dazu, dass wir unser gesamtes Leben nur im lauwarmen Bereich leben. Mit dem Schmerz schneiden wir auch die tiefe Freude ab. Daher sind so viele Menschen lieber im Verstand. Denken ist sicherer und tut nicht weh.
„Das Ziel im Leben ist es, all unser Lachen zu lachen und all unsere Tränen zu weinen. Was auch immer sich uns offenbart, es ist das Leben, das sich darin zeigt, und es ist immer ein Geschenk, sich damit zu verbinden.“
M. B. Rosenberg
Wenn man Schmerz kennt, durchlitten hat und hinten wieder heil rausgekommen ist, dann ist man sowas wie ein Bergungstaucher, der furchtlos in jeden tiefen See taucht. Ok, vielleicht nicht furchtlos, aber zumindest taucht er in jeden See. Er weiß, dass jeder See begrenzt ist, und dass man einfach eine anständige Portion Sauerstoff dabei haben muss, um nicht zu ertrinken. Je tiefer der Taucher schon getaucht ist, umso größer kann das Gewässer sein, in das er jemanden begleitet: „Ist alles nur Wasser, oder?“. Wenn man hingegen an seinem eigenen See nur eine Liege aufgestellt hat und noch nie drin geschwommen ist, dann traut man sich auch nicht in die Seen anderer Leute. Ihr Schmerz erinnert einen dann an den eigenen See, der schon langsam umzukippen beginnt.
Fazit: Man ist umso empathiefähiger, desto mehr man bereit ist, über sich selbst nachzudenken und den Mut hat, sich dem eigenen Schmerz zu stellen.
Ja, gerade im Umgang mit Kindern ist es immer wieder zu beobachten (auch an sich selbst): Wie schnell reden wir ihnen ein, dass doch alles gar nicht so schlimm ist. Nun hör mal auf zu weinen, wird schon alles wieder gut. Es spielt da Angst rein und die Unfähigkeit, den Schmerz des Anderen auszuhalten. Aber auch Unaufmerksamkeit. Das Kind weint, da müsste ich mich ihm jetzt zuwenden, aber eigentlich muss ich jetzt Kartoffeln schälen. Hör auf zu weinen, so schlimm wars doch nicht!
„Plärrende“ Kinder, sei es nun aus Schmerz oder auch Zorn, sind in unserer Gesellschaft außerdem unerwünscht. Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Schreiende Kinder müssen besänftigt werden, oder abgelenkt oder zumindest in ihre Grenzen gewiesen. Sie dürfen ihre Gefühle nicht ausleben, und lernen so nie so richtig, damit umzugehen. Vielleicht haben wir es deshalb nie gelernt, und vielleicht können wir auch deshalb mit den Gefühlen unserer Kinder nicht umgehen usw. Ein nicht enden wollender Kreislauf.
Ich habe gelernt, dass Kinder weinen müssen, um Stress abzubauen. Sie sollen dann nicht abgelenkt werden. Trotzdem kostet es mich volle Aufmerksamkeit, das auch durchzuhalten und nicht diese schlichtenden Floskeln ganz automatisch von mir zu geben. Wenn meine Kinder weinen, ist das Stress für mich, dem ich unbewusst versucht bin, aus dem Weg zu gehen. Nur wenn man im Hier und Jetzt lebt, kann man sich diesem Automatismus bewusst entziehen (und plötzlich ist es dann auch kein Stress mehr, sondern ein Aspekt des Lebens).
Schmerz gehört doch zum Leben dazu, und – wie Sie schreiben – lässt uns auch wachsen, wenn wir ihn durchstanden haben. Deshalb danke für diesen wieder sehr lesenswerten Artikel!
Bettina Ramm