Ich kenne eine Menge Coaches, die Menschen helfen wollen, ihre „Persönlichkeit zu entwickeln“. Die Frage ist jedoch: welche genau soll denn entwickelt werden? Wir haben doch so viele: die kompetente Geschäftsfrau, die mitfühlende Freundin, die treusorgende Ehefrau, die fürsorgliche Mutter etc.
Jeder von uns hat eine Fülle von Persönlichkeiten, und zwar nicht nur vorzeigetaugliche, sondern auch peinliche, wie z. B. das ungeliebte Kind, das immer versucht, es richtig zu machen, den bockigen Teenager, der nicht einsieht, dass die Welt ihm nicht zu Füßen liegen will, die hysterische Xanthippe, die nicht dulden will, dass sich jemand in der Schlange vor sie drängelt, oder die neidische Tussi, die nicht gut damit klar kommt, dass die Frau neben ihr schönere Beine hat als sie.
Und jede Persönlichkeit ist ein Paket aus Gedanken, Gefühlen, Körperhaltungen. Sie wechseln je nach Bedarf und Situation, und dadurch ist es schwierig, eine von ihnen zu verbessern. Denn kaum ist eine auf der Bühne, ändert sich ein äußerer Umstand – und schwupp! ist sie wieder abgetreten und eine andere steht im Rampenlicht. Und manchmal sogar eine, die wir lieber versteckt hätten.
Ist da überhaupt ein Ich?
Nein, streng genommen ist da keins. Tatsächlich ist da nur eine Aneinanderreihung von Erlebnissen, die sich für jeden individuell zusammensetzen, und auf die wir in irgendeiner Weise reagieren. Dass es sich so anfühlt, als sei da ein Ich, kommt a) daher, dass wir einen Namen haben, und b) dass unser Gehirn aus allem, was wir erleben, Kausalzusammenhänge herstellt und eine Geschichte strickt.
Sehr kleine Kinder, deren Gehirn noch langsamer arbeitet, und die sich noch nicht mit ihrem Namen identifizieren, bilden noch keine Kausalzusammenhänge. Die Erlebnisse werden einzeln erlebt – so wie wenn ein Ventilator sich ganz langsam bewegt: man sieht ein Rotorblatt nach dem anderen. Schwmm. Schwmm. Schwmm. Kleine Kinder nehmen eher die Stimmungen der Menschen wahr, die sie umgeben, ob diese in Konflikten verfangen oder in Frieden sind.
Wenn das Gehirn schneller wird und wir Situationen überblicken können, wird die Wahrnehmung komplexer, vor allem wenn noch die Sprache dazu kommt. Um in dem Ventilatorbild zu bleiben: die Ereignisse sind eigentlich immer noch einzelne Rotorblätter, aber wir sehen sie jetzt als Kreis. Und der Kreis ist die Geschichte, die wir uns zusammenstricken.
Und wie wir den „Kreis“ erleben, hängt von unseren Prägungen in den ersten sieben Lebensjahren ab.
Wir glauben irgendwann, wir seien ICH – vielleicht auch, weil man es uns sagt: „Du“. Auf einmal werden wir uns unserer selbst bewusst – und fallen aus der Einheit. Und wir beginnen, uns mit dem Verstand zu identifizieren. „Ich denke, also bin ICH“.
Unser Verstand gaukelt uns vor, diese Datensammlung aus Verhaltensweisen, Gefühlen und Gedanken sei eine abgrenzbare Menge, und man könne sie ICH nennen. Und alles, was einmal in Existenz gekommen ist, möchte überleben. Daher sind wir ICH. Und das Ich verleibt sich alles ein, was es sieht und toll findet: ihm „gehört“ ein Auto, eine teure Uhr, auch z.B. eine Meinung, ein Hobby, eine Eigenschaft. Es vergleicht, es bewertet, es will besser sein, es will Recht haben usw.
Es bilden sich Persönlichkeiten. Auf manche sind wir stolz und zeigen sie gerne, andere verstecken wir lieber im hintersten Schrankfach. So wollen wir nicht sein. Wir bestreiten, so zu sein: „Nein, ich bin überhaupt nicht neidisch!“ Das sind alles Eigenschaften, die wir ausmerzen wollen – nur die guten wollen wir behalten. Wir wollen immer besser werden, und daher wollen wir unsere Persönlichkeit entwickeln.
Wenn wir angesichts von „unserer Persönlichkeit“ sprechen, ist das so, als wählen wir in unserem vollen Kleiderschrank ein bestimmtes Outfit und sagen: „So ziehe ich mich immer an – das bin ich.“ Wir identifizieren uns mit dem schicken Hosenanzug oder dem opulenten Kleid – das ist unsere Persönlichkeit, denken wir. Aber was ist mit den ausrangierten Shorts? Den Schlafanzügen? Den ausgeleierten T-Shirts? Den alten, fleckigen Plünnen, die wir immer zum Wohnungstreichen anziehen?
Wir sind der ganze Schrank, nicht nur das schöne Kleid.Und wenn wir alles umarmen können, was drin ist, also auch die durchlöcherte Schlabberhose und das spießige Blumenkleid aus den 90ern, dann…, ja dann… ändern wir uns! Ganz automatisch. Und irgendwann erkennen wir vielleicht sogar, dass der Schrank in Wirklichkeit leer ist … 😀
Das Ziel: gar keine Identifikation mehr.
Wenn wir eine bestimmte Persönlichkeit ändern wollen, dann wollen wir ihr einen neuen Look verpassen. Weil sie uns so, wie sie ist, nicht gefällt bzw. noch nicht ganz perfekt erscheint. Aber wir wollen sie trotzdem behalten. Oder vielleicht wollen wir uns sogar eine neue, tollere, schönere, erfolgreichere zulegen. Das ist immer noch Identifikation! „Ich bin (jetzt) so.“
Aber das ist nur ein Bruchteil der Wahrheit. Manchmal sind Sie so, aber oft sind Sie auch ganz anders. Wir sind alle mal liebevoll und mal gemein, mal arrogant, mal einfühlsam, mal gierig, mal selbstlos, mal freundlich, mal hasserfüllt usw. Alle Gedanken, Gefühle und Stimmungen kommen und gehen wie Wellen auf dem Ozean. Jeder von uns kennt alle Gefühle und Stimmungen – manche Gefühle haben wir intensiver, manche nur im Ansatz, aber kein Gefühl ist uns ganz fremd. Und ich sage das aus eigener Erfahrung. Und wenn wir alle Regungen in uns umarmen, dann können wir die Einheit mit allen leichter fühlen.
Wir sind alle eins.
Seitdem ich das erste Mal in Indien an einem Kurs der Oneness University teilgenommen habe, ist mein Mitgefühl exponential gewachsen: Ich kann mich in jeden einfühlen. Sogar in Gewalttäter, Drogenabhängige, Terroristen, Kriegsverbrecher, Mörder etc. Und das ist gar keine große Sache. Dass da immer mehr Mitgefühl ist, habe ich daran festgestellt, dass ich auf Kinofilme viel stärker reagiere – ich habe Mitgefühl für fast alle Charaktere, und zwar meist gleichzeitig. Das war z.B. so bei dem Film „Mein Leben“ über Reich-Ranicki. In einer Szene sprach Reich-Ranicki (grandios gespielt von Schweighöfer) mit einem deutschen Soldaten, und ich wusste plötzlich, was diesen dazu gebracht hat, sich so mies zu verhalten: Angst, nicht mehr zu den Kumpels dazuzugehören, Angst, ein Weichei zu sein, Angst vor negativen Folgen von den Vorgesetzten – und der angenehme (wenn auch unzutreffende) Gedanke, besser zu sein. Das bedeutet natürlich nicht, dass ich gutheiße, was solche Menschen tun oder dass ich es entschuldigen würde. Aber diese Ängste sind mir vertraut – und auch der Gedanke, besser zu sein, huscht manchmal durch meine Gehirnwindungen. Wir sind alle aus dem gleichen Bewusstsein gemacht. Wir unterscheiden uns nur in unseren Erlebnissen. Und die daraus entstandenen Persönlichkeiten sind nicht so wichtig, als dass man daraus eine große Sache machen muss.
Dadurch, dass ich so mitfühlend geworden bin (wozu ich nichts aktiv beigetragen habe, sondern es hat sich einfach ereignet), habe ich seltener als früher den Impuls, andere Menschen zu bewerten. Auch in anderen Menschen gibt es „gute“ und „schlechte“ Charaktereigenschaften, sozial verträgliche Persönlichkeiten und sozial unverträgliche, triste und tolle Gedanken und Gefühle – genau wie in mir. Wenn ich z.B. die Gelegenheit habe, den Autofahrer zu sehen, der mir gerade die Vorfahrt genommen hat, dann verstehe ich meist, warum er das getan hat. Ich sehe sein verschlossenes, gestresstes Gesicht,
Ich beobachte mittlerweile immer öfter den Wechsel meiner Persönlichkeiten, die nacheinander die Bühne betreten und wieder verlassen und denke nur: „Aha. Jetzt kommt diese. Aha, jetzt geht sie wieder.“ Und Freunde sagen über mich, dass ich viel entspannter geworden bin. Weil ich nicht mehr versuche, mich zu ändern.
Was sagt uns das jetzt in Bezug auf die Versuche, die Persönlichkeit weiterzuentwickeln? Schon der Begriff ist unscharf, denn meist ist etwas ganz anderes gemeint: nämlich das Aufräumen alter Ladungen und Blockaden. Und es kann definitiv zu einem erfüllteren Leben beitragen, wenn Sie Traumata auflösen, Ihren Eltern vergeben – und natürlich sich selbst vergeben (was auch immer Sie sich zu vergeben haben). Und wenn Sie das tun, lösen sich manche Persönlichkeitspakete einfach auf. Und zwar ganz ohne Weiterentwicklung. 😉
Liebe Michaela,
habe eben zum ersten Mal einen/Deinen Blog gelesen. Sehr schön. Ja, wir sind alle eins und ganz viele.
Frohes Neues Jahr,
Maike
Liebe Maike,
vielen Dank für die Neujahrsgrüße, und ich freue mich, dass dir mein Blog gefällt. Auch dir ein wunderbares neues Jahr!
Michaela