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Falsche Erwartungen – bzw. unausgesprochene – sind meines Erachtens der Hauptgrund für Konflikte und Rechtsstreits.
Falsche Erwartungen sind mir in den letzten Wochen besonders häufig als Konfliktursache aufgefallen, daher wollte ich darüber mal einen Blogartikel schreiben. Für die Schwierigkeiten von Kommunikation interessiere ich mich seit meinem 14. Lebensjahr und begann früh, das Kommunikationsverhalten von Menschen nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell zu beobachten.
„Das kriegen wir dann schon.“
Treu und Glauben bezeichnet das Sozialverhalten eines redlich und anständig handelnden Menschen. Und wenn wir ein Projekt, einen Vertrag oder was auch immer beginnen, denken wir gut von unserem Geschäftspartner. Es gibt sogar viele Menschen, denen es wichtig ist, Dinge nur mit Handschlag zu regeln: „Das kriegen wir dann schon“. Dies bedeutet für sie Vertrauen. Sie werden misstrauisch, wenn jemand zu viel schriftlich regeln will. Sie erwarten nicht, dass es zu Problemen kommen könnte. Aber „Das kriegen wir schon“ ist ein sehr schwammiger Satz. Jede Seite wird automatisch den für sie optimalen Ausgang in diese Aussage hineinprojizieren.
Der blinde Bereich
Falsche Erwartungen entstehen, weil zwei Parteien, die z.B. gemeinsam ein Projekt planen, bestimmte Themen nicht besprechen, weil sie unbewusst glauben, es gebe nichts zu regeln. Der hier schraffierte Bereich symbolisiert diese Themen bzw. Erwartungen. Jede Partei erwartet unbewusst, dass die andere Partei weiß, dass es ja nur so sein kann, wie sie selbst denkt.
Das gescheiterte SoLaWi-Projekt
Ich nahm mehrere Jahre an einem SoLaWi-Projekt teil, welches an unausgesprochenen Erwartungen der wesentlichen Beteiligten zerbrach. Es gab einen Hofbesitzer, der die Flächen verpachtete, und einen Gärtner, der von der Gemeinschaft bezahlt wurde. Der Gärtner mietete bei dem Hofbesitzer eine Wohnung, aber die beiden machten keinen schriftlichen Mietvertrag. Eine ganze Weile ging alles gut. Irgendwann hatten die Parteien aber unterschiedliche Ansichten über den Ausbau von Kellerräumen. Diese sollten von der Partnerin des Gärtners genutzt werden. Gärtner und Hofbesitzer haben nicht schriftlich fixiert, in welcher Zeit der Ausbau dieser Kellerräume stattfinden sollte. Auch ab wann der Gärtner mehr Miete bezahlen sollte, hatten sie nicht festgelegt. Beide Parteien hatten somit jeweils falsche Erwartungen an die andere Seite. Sie äußerten ihren Ärger hochemotional, so dass der Konflikt immer mehr eskalierte. Aus meiner Sicht hätte man das alles vermeiden können, wenn die Parteien den Mietvertrag verschriftlicht hätten.
Unbewusste interkulturelle Unterschiede erzeugen besonders häufig falsche Erwartungen.
Beispiel: Als während des Zweiten Weltkrieges amerikanische Soldaten in England stationiert waren, verbreitete sich die Ansicht, englische Frauen seien sexuell leicht zugänglich. Die englischen Frauen behaupteten jedoch, amerikanische Soldaten seien es, die immer gleich zur Sache kommen. Bei einer Untersuchung stellte sich heraus, dass das Paarungsverhalten vom Kennenlernen bis zum Geschlechtsverkehr ungefähr 30 Stufen durchlief, aber die Reihenfolge dieser Verhaltensformen war in beiden Kulturbereichen unterschiedlich: Während z.B. das Küssen in Amerika schon auf Stufe 5 erfolgte, küssten Engländer erst auf Stufe 25. Wenn eine Engländerin von einem Amerikaner geküsst wurde, musste sie also entscheiden, ob sie die Beziehung abbrechen oder sich dem Partner sexuell hingeben sollte. Wenn sie sich für die letztere Alternative entschied, dachte der Amerikaner, die Engländerin sei leicht zu haben. Ihr Verhalten passte für ihn nicht in das Frühstadium der Beziehung. (Watzlawick et al 1969)
Besonders bei Kulturen, die die gleiche Sprache sprechen, sind solche falschen Erwartungen vorprogrammiert. Man weiß gar nicht, welche Unterschiede es geben könnte und denkt daher, es gebe keine. Ich glaube also, der andere wird in dieser oder jener Situation genauso reagieren wie ich, und wenn er es nicht tut, dann ist er eben komisch. Und umgekehrt.
„Sowas weiß man doch!“
„Er hätte es sich denken können!“, „Wie kann man das denn anders verstehen?“, „Das kann man doch wohl erwarten!“, „Das war doch wohl klar!“ Das sind die häufigsten Sätze, die ich höre, wenn die eine Partei die Erwartungen der anderen nicht erfüllt. Meist handelt es sich um Nebenpflichten, an deren Regelung man nicht denkt, wenn man die Hauptpflichten festlegt. Wir gehen davon aus, der andere hat die gleichen Vorstellungen wie wir selbst, denn wir haben keinen Anlass, das Gegenteil anzunehmen.
Falsche Erwartungen im Geschäftsleben
Beispiel 1: 2019 hatte ich einen Konflikt mit einer Kundin, weil ich ihre Bankdaten dem Provider mitgeteilt hatte, als ich für sie den Webhostingvertrag mit Lastschriftverfahren abschloss. Sie erhielt vom Provider eine Rechnung und war sehr empört, dass ich „einfach“ ihre Bankdaten weitergegeben hatte. Das mache ich so, seit ich die Werbeagentur betreibe. Bisher war das noch nie ein Problem. Im Gegenteil: Gerade Kunden, die nicht wissen, was beim Abschluss eines Webhostingvertrages zu beachten ist, sind dankbar, wenn ich ihnen das abnehme. Daher war meine Haltung: „Hä? Das hätte sie sich doch denken können!“ Ich verhielt mich in meiner Welt völlig normal, aber die Kundin kannte meine Welt gar nicht. Ihre kämpferische Diktion erweckte bei mir die Befürchtung, dass es so weitergehen könnte, daher beendete ich das Geschäftsverhältnis sofort. Aber seitdem weise ich Neukunden ausdrücklich darauf hin, dass ich unter ihrem Namen ein Lastschriftverfahren abschließe.
Beispiel 2: Ich entwickelte für eine Kundin einen Flyer und bestellte ihn für sie bei Flyeralarm. Die E-Mail von Flyeralarm leitete ich an sie weiter, damit sie den Rechnungsbetrag begleichen konnte. Sie war empört, weil sie dachte, die Druckkosten wären im Auftrag enthalten. Wieder dachte ich: „Wie kann man denn sowas erwarten?“ Aber warum eigentlich nicht?
Drüber reden ist die Lösung.
Man kann falsche Erwartungen nicht verhindern. Es ist einfach nicht möglich, alle Eventualitäten vorwegzunehmen, um alle Irrtümer auszuschließen. Außerdem kann es passieren, dass eine Überregelung eher Argwohn erzeugt als Sicherheit: Wenn man vor dem Abschluss eines Vertrages erst ein 20-seitiges Schriftstück durcharbeiten muss, zweifelt man vielleicht an seiner Entscheidung. Aber auch hier hilft Reden: Erklären, warum man so viele Regelungen verschriftlicht.
Entscheidend ist, wie die Parteien mit der Situation umgehen, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Wichtig ist hier, die Perspektive des Anderen ernstzunehmen. Sie ist genauso richtig wie die eigene – nur eben anders. In der Regel will uns der andere ja nicht über den Tisch ziehen, sondern hat die Situation einfach anders wahrgenommen. Im Vertragskontext frage ich meine Kunden, was ich für sie tun kann, damit sie sich wieder wohlfühlen. Meist funktioniert das.
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