„Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist. Wie sehen sie, wie WIR sind.“Anais Nin
Ich bin begeisterter Trekkie, und ich mag besonders die Serie „Raumschiff Voyager“.
In der sechsten Staffel dieser Serie gibt es eine Folge, die mich in Bezug auf den Titel dieses Blog-Artikels besonders beeindruckt hat: „Die Voyager-Verschwörung“.
Die Hauptrolle spielt in dieser Folge das Crew-Mitglied Seven of Nine, eine Frau, die die meiste Zeit ihres Lebens im halb-kybernetischen Borg-Kollektiv verbracht hat, und in deren Körper sich daher inoperable kybernetische Restbestandteile befinden. Einer davon ist ihr sog. Kortikalknoten – vergleichbar einem riesigen Datenspeicher. Seven ist sehr perfektionistisch und eines Tages beschließt sie, schrittweise sämtliche Daten der bisherigen Reise des Schiffes in ihren Kortikalknoten zu überspielen – weil sie, Seven, nicht von Anfang an auf dem Schiff war, sondern erst später dazu gekommen ist.
Nach dem ersten Daten-Upload hat sie den Verdacht, der Captain sei an einer Verschwörung beteiligt und teilt ihre Besorgnis heimlich dem ersten Offizier, Chakotay, mit. Nach dem zweiten Daten-Upload verdächtigt sie umgekehrt Chakotay einer Verschwörung und teilt dies dem Captain mit – jeweils mit schlüssiger Indizienkette. Beide, Captain und Chakotay, nehmen die Hinweise ernst und versprechen, weitere Nachforschungen anzustellen. Als Chakotay und der Captain einmal offen miteinander sprechen, stellt sich heraus, dass keiner von beiden an einer Verschwörung beteiligt ist.
Nach weiteren Daten-Uploads kommt Seven zu einer dritten Schlussfolgerung: sie selbst sei das Ziel einer Verschwörung, und sie flieht daher in einem Shuttle. Dem Captain gelingt es in letzter Minute, Seven zu überzeugen, dass die vermeintlichen Indizien auf nichts hinweisen, und dass es keine Verschwörung gibt.
Grund für die Verschwörungstheorien war die Überlastung des Kortikalknotens: er versuchte, die hochgeladenen Daten in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen.
Was hat diese Geschichte mit radikalem Konstruktivismus zu tun? Auch wir bringen dauernd irgendwelche Daten in eine vermeintlich sinnvolle Reihenfolge (und manchmal kommt auch eine Verschwörungstheorie heraus – oder manchmal kommt vielleicht keine heraus, obwohl eine Verschwörung im Gang ist!). Da draußen gibt es unendlich viele Daten und Informationen, aber welche wir wahrnehmen, wie wir sie interpretieren, bewerten und miteinander verknüpfen und welche Kausalzusammenhänge wir herstellen, hängt vollkommen von uns ab. Stellen Sie alle Ereignisse als ein gigantisches Nadelkissen vor, und Sie wickeln einen Wollfaden um beliebig viele Stecknadeln. Die Reihenfolge und Richtung bestimmen Sie selbst. Das ist ein sehr simples Bild, aber so ungefähr gestalten Sie Ihre Welt.
In Wikipedia wird das folgendermaßen erklärt: „Die Kernaussage des Radikale Konstruktivismus ist, dass eine Wahrnehmung kein Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität liefert, sondern dass die Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt. Deshalb ist Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich. Jede Wahrnehmung ist vollständig subjektiv.“
Die Welt ist für jeden völlig anders. Es mag Dinge geben, über die die meisten Menschen auf diesem Planeten sich einig sind: wir wissen fast alle, was ein Fahrrad ist. Aber bei näherem Hinsehen muss man auch das in Frage stellen: vielleicht hat ein Eingeborener aus einem Dschungel noch kein Fahrrad gesehen und kennt auch das Wort nicht. Und alles, was man nicht kennt, sieht man nicht. Das war übrigens auch der Grund, warum die Südamerikaner die allerersten Schiffe der Weißen nicht gesehen hatten – sie hatten kein Konzept von Schiff, also haben sie es zunächst nicht wahrgenommen.
Ich interessiere mich für Wahrnehmung schon viele Jahre: schon in meinem Rechtsreferendariat las ich mit Begeisterung ein Buch über Tatsachenfeststellung vor Gericht, Wahrnehmung, Erinnerungsleistungen und Lügen. Meine Beschäftigung mit Gewaltfreier Kommunikation tat ein Übriges, denn der erste Schritt ist die Beobachtung ohne Bewertung – also wieder Wahrnehmung.
Was und wie wir es wahrnehmen, hängt wesentlich von den Erfahrungen ab, die wir im Zeitpunkt unserer Empfängnis erleben, im Mutterleib, während der Geburt und in den ersten Jahren unseres Lebens. Wir werden in ein Familiensystem mit bestimmten Werten hineingeboren, in ein Gemeindesystem, in ein Staatssystem usw. Das Meiste lernen wir ohne Worte – es ist dann einfach so wie es ist. Daher findet ein Inder in Chennai es nicht unangenehm, wenn sich Müllberge auf der Straße türmen, und zwar sogar in noblen Stadtvierteln (habe ich selbst gesehen). Und daher wird ein ungewolltes Kind es normal finden, wenn es ständig verprügelt wird. „Die Welt ist eben so“. Und das stimmt, denn die Welt taucht vor jedem von uns unterschiedlich auf.
Dies gilt z.B. für Parteizugehörigkeiten: die einen fühlen sich nur in der CDU heimisch, andere bei der SPD, einige bei den Grünen, wenige Versprengte noch bei der FDP, und manche auch bei rechten Parteien. Wir alle haben einen unterschiedlichen Erfahrungs- und Erwartungshorizont, Werte, Interessen, Gefühle etc. Dem einen ist es wichtig, dass Zucht und Ordnung auf den Straßen herrschen (vermutlich, weil er selbst mit Zucht und Ordnung erzogen worden ist), der andere fühlt sich nur sicher, wenn er viel Freiheit erfährt (weil er vielleicht mit viel Freiheit erzogen wurde), ein anderer hat ein schlichtes Gemüt, Minderwertigkeitsgefühle und Angst und sucht einfache Lösungen, weil er die komplexen nicht versteht.
Und weil die Welt für jeden so unterschiedlich ist, gibt es auch unterschiedliche Religionen. Ein gläubiger Mensch macht eine Gotteserfahrung, und weil sie sich so real anfühlt, hält er sie für objektivierbar: „So ist Gott.“ Das stimmt auch – so ist Gott für ihn. Ein Anhänger einer anderen Religion macht eine andere Erfahrung, versteht z.B. ein heiliges Buch so, dass man bestimmte Speisen nicht zusammen aufbewahren oder essen dürfe – und das ist dann auch Wahrheit. Zumindest für ihn und die, die das Gleiche glauben. Jeder hat seinen eigenen Zugang zu Gott. Für jeden fühlt Gott sich unterschiedlich an: für die einen ist er liebevoll und verzeihend, für die anderen streng und eifersüchtig, für noch andere gleichgültig. Und sogar wenn mehrere Menschen sich auf die gleiche Schrift beziehen, kann man sich immer noch voneinander unterscheiden. Das, was man selbst glaubt, ist immer richtiger als das, was die anderen glauben. Und das ist folgerichtig, denn das, was man selbst glaubt, basiert ja auf einer eigenen Erfahrung. Und der eigenen Erfahrung glaubt man logischerweise mehr als einer fremden (außer, wenn man als Kind gelernt hat, dass die eigene Wahrnehmung falsch ist, aber das führt jetzt zu weit weg).
Manche Menschen machen keine spirituellen Erfahrungen, weil es aus ihrer Sicht keinen Gott gibt. Für sie gibt es nur Materie. Alles Spirituelle ist Humbug, Scharlatanerie. Dies liegt ebenfalls an der willkürlichen Wahrnehmung bzw. Entscheidung, denn wenn ich schon weiß, dass ich auf keinen Fall eine mystische Erfahrung haben kann, weil es so etwas nicht gibt, dann werde ich höchstwahrscheinlich auch keine haben. Welche Erfahrung auch immer ich mache, sie wird nicht spirituell sein, wenn das meinem Weltbild nicht entspricht.
Wenn ich mich z.B. entschieden habe, nicht an Wunder zu glauben, dann tue ich es grundsätzlich nicht. Und wenn mir jemand von einem Wunder erzählt, dann glaube ich es nicht, und vielleicht wechsle ich schnell das Thema. Dies zeigt sich z.B. schön in diesem Mitschnitt der Sendung „Menschen bei Maischberger“ anlässlich des Papstbesuches, in dem Andreas Englisch (bei Minute 6:41) von einem Wunder erzählt, das Johannes Paul II. vollbracht haben soll. Achten Sie mal darauf, wie Mathieu Carriere reagiert.
Und wenn ich ein Weltbild habe, in dem es Himmel, Hölle und einen Teufel gibt, dann muss ich mich unbedingt nach der Bibel richten, weil ich sonst für alle Ewigkeit verloren bin. Und dann fürchte ich alles, was nicht ausdrücklich bibeltreu ist.
Alles ist wahr, auch das Gegenteil – das sagte schon Paul Watzlawick. Jedem geschieht nach seinem Glauben. Alles ist Information, und alle Informationen, die im Feld vorhanden sind, sind wahr – und zwar für den, der eine Resonanz darauf hat. Nichts ist absolut. Und wenn man sich das mal wirklich klarmacht, dann zieht es einem den Boden unter den Füßen weg. Unsere Weltbilder sind daher sehr hermetisch. Die Meisten von uns sind darauf angewiesen, in einem festgefügten Paradigma zu leben, weil wir sonst völlig verloren im Raum herumirren. Eigentlich hat zwar nichts, das wir sehen, eine Bedeutung – oder wenigstens nicht die Bedeutung, die wir ihm zuweisen. Aber diese Sichtweise kann man als unerleuchteter Mensch kaum aushalten. Und daher ist auch dieser Artikel eigentlich völlig bedeutungslos. J
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